1099 - Der Werwolf und die Tänzerin
lassen. Dann mußte sie die bewohnten Gebiete einfach meiden, um nicht irgendwelchen Menschen in die Arme zu laufen und aufzufallen.
Ich schwieg. Ich wußte auch nicht, wieviel Zeit vergangen war, aber wenn der Morgen graute und es hell wurde, dann war es durchaus möglich, daß sich die Bestie wieder in einen normalen Menschen verwandelte und die erneute Verwandlung erst bei Erscheinen des Vollmondes wieder eintrat. So war dieser Kreislauf.
Zum erstenmal seit meinem Erwachen sprach mich die Tänzerin an. Sie mußte laut reden, um die Fahrgeräusche zu übertönen. »Bist du inzwischen wach, Sinclair?«
»Ja.«
Das eine Wort hatte wohl nicht gut geklungen, denn die Frau am Steuer lachte. »Dir scheint es nicht besonders zu gehen.«
»Stimmt.«
»So etwas hat man sich dann meist selbst zuzuschreiben. Du hättest deine Nase nicht in bestimmte Dinge hineinstecken sollen.«
»Es ist nun mal passiert.«
»Ich weiß«, erklärte sie voller Freude. »Deshalb wirst du auch die Konsequenzen zu tragen haben.«
Ich schwieg.
Die Tänzerin aber wollte reden. Sie fragte mich ziemlich aggressiv: »Du bist ein Bulle?«
»Ja.«
»Das habe ich deinem Ausweis entnommen. Ich dachte, du wärst ein Knecht dieser Detektivin. Aber Bulle ist gut. Das ist sogar noch besser, wenn ich ehrlich sein soll. Gibt es ein besseres Pfand, als einen Bullen? Sag es selbst.«
»Keine Ahnung.«
»Los, stell dich nicht so an.«
»Ich weiß nicht, was ihr mit mir vorhabt.«
Sie lachte wieder laut auf. »Jedenfalls habe ich nicht vor, dich laufenzulassen.«
»Das dachte ich mir.«
»Deshalb haben wir dich auch gefesselt.«
»Sollen die Drähte jetzt bleiben?«
»Nein, nicht für immer. Nur so lange wie ich es für richtig halte, mein Freund.«
Obwohl mich das Reden in meinem Zustand anstrengte, sprach ich weiter. »Ich bin Polizist. Man weiß, daß ich einen Auftrag habe. Man wird mich suchen.«
»Das ist klar.«
»Man wird mich auch finden.«
»Das glaube ich nicht.«
»Jane Collins wird aussagen.« Ich hatte sie bewußt erwähnt, auch weil ich wissen wollte, ob Madeleine Bishop sie am Leben gelassen hatte.
»Ach, die kleine Detektivin. Himmel, sie tut mir beinahe leid. Ich habe wirklich überlegt, ob ich sie töten sollte und habe schließlich Abstand davon genommen. Sie fühlte sich so stark und kam mir doch sehr hilflos vor. Außerdem war sie mir sogar auf irgendeine Art und Weise sympathisch. Komisch, nicht?«
»In der Tat.«
»Ich mag Frauen. Ich mag sie sogar mehr als Männer.«
»Dann wundert es mich, daß du dich mit einem männlichen Wesen umgibst. Oder ist mein Bewacher eine Wölfin?«
»Nein, er ist ein Wolf. Aber er ist auch kein Mann im eigentlichen Sinne. Er ist etwas Besonders. Ich liebe ihn als Bestie auf der einen und als Mann auf der anderen Seite.«
»Das ist schwer zu verstehen.«
»Weiß ich.«
»Und wo fahren wir hin?«
»In die Natur. Wir sind bald da. Du brauchst keine Sorge zu haben. Unser Liebesnest ist wirklich gut. Es wird auch dir gefallen, obwohl du dich nur schlecht bewegen kannst. Aber das hast du dir leider selbst zuzuschreiben.«
Ich wollte sie von meiner Person ablenken und kam auf ihr Hobby zu sprechen. »Warum spielst du Theater? Warum tanzt du abends allein auf einer Bühne?«
»Weil ich es tun muß. Es steckt ein Drang in mir, den ich nicht zügeln kann. Ich bin für den Tanz geboren, aber man hat mich nicht gelassen. Man wollte keine Künstlerin in der Familie haben. Das hat einfach nicht gepaßt.«
»Manche Menschen sind eben so.«
»Nicht bei mir!« schrie sie los. Da hatte ich wohl einen wunden Punkt getroffen. »Nicht bei mir. Ich bin anders. Ich lasse mir nichts vorschreiben. Ich gehe meinen eigenen Weg. Schon als Kind habe ich mich nicht um die verdammten Regeln und Konventionen gekümmert. Als Erwachsene erst recht nicht.«
»Dann hast du deinen Begleiter kennengelernt.«
»Ja, Carl Lintock. Es war der Zufall in meinem Leben. Er ist anders, ich bin es auch. Wir beide passen wunderbar zusammen. Der Werwolf und die Tänzerin. Die Schöne und das Biest. Ich habe ein altes Märchen wahr werden lassen.«
»Und jetzt bin ich der Störenfried.«
Sie lachte. »Das sieht im ersten Moment nur so aus. Tatsächlich spielst du eine wichtige Rolle in meinen Überlegungen, denn ich habe meinen Plan blitzschnell geändert. Aber das ist noch Zukunftsmusik.«
»Man wird mich finden.«
»Ja.«
»Was machst du dann?«
»Nichts.«
»Warum nicht?«
Vor ihrer Antwort kicherte sie wie ein
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