11 - Nie sollst Du vergessen
war zu manchen Tageszeiten sehr viel Verkehr, und nicht einmal ein Zebrastreifen garantierte, dass man als Fußgänger unbeschadet über die Fahrbahn kam.
Sie überquerten die Straße und betraten den Park.
Alles war nass vom Regen der vergangenen Nacht. Die Gräser bogen sich unter dem Gewicht des Wassers, von den Bäumen tropfte der Regen, die Bänke an den Wegen glänzten feucht. Aber Webberly störte das nicht. Er hatte nicht die Absicht, sich unter die Bäume zu setzen oder durch das Gras zu stapfen, durch das Alfie ausgelassen herumzutollen begann, sobald sein Herr ihn von der Leine gelassen hatte. Webberley schlug den Fußweg ein, der um die Anlage herumführte, und während er auf knirschendem Kies zielstrebig dahinlief, wanderten seine Gedanken fort aus Stamford Brook, wo er seit mehr als zwanzig Jahren lebte, und suchten Henley auf, den kleinen Ort an der Themse.
Bis zu diesem Moment des Tages hatte er es geschafft, nicht an Eugenie zu denken. Es erschien ihm wie ein Wunder. In den vorangegangenen vierundzwanzig Stunden war sie keine Minute aus seinen Gedanken gewichen. Er hatte noch nichts von Eric Leach gehört, und er hatte Tommy Lynley im Yard nicht gesprochen. Lynleys Bitte, ihm Constable Winston Nkata zuzuteilen, sah er als ein Zeichen dafür, dass die Ermittlungen Fortschritte machten, aber er wollte wissen, welcher Art diese Fortschritte waren, denn es war besser zu wissen - was auch immer es war - als mit der Ungewissheit und den Bildern aus der Vergangenheit dazustehen, die man am besten vergaß.
Da ihm aber der Kontakt zu den Kollegen fehlte, kehrten die Bilder zurück. Ohne den Schutz der beengenden Wände seines Hauses, ohne Frances' Geplapper und die, die ihn forderten, wenn er ins Büro kam, wurde er von Bildern bestürmt, inzwischen so fern, dass sie nur noch Fragmente waren, Teile eines Puzzles, das er nicht hatte vollenden können.
Es war Sommer. Irgendwann nach der Regatta. Er und Eugenie trieben in einem Ruderboot auf dem trägen Fluss dahin.
Ihre Ehe war nicht die erste, die der Erschütterung durch einen gewaltsamen Tod in der Familie nicht standgehalten hatte, und würde nicht die Letzte sein, die unter dem Druck der äußeren Umstände - polizeiliche Ermittlungen und Gerichtsverfahren - und der heftigen Schuldgefühle zerbrach, die der Tod eines Kindes, verursacht durch eine Person, der man vertraut hat, mit sich brachte. Aber der Zerfall dieser Ehe hatte Webberly besonders berührt. Es dauerte viele Monate, bevor er sich den Grund dafür eingestand.
Nach dem Prozess war die Sensationspresse mit der gleichen räuberischen Lust über Eugenie Davies hergefallen wie über Katja Wolff. Die Wolff wurde als die Verkörperung des Bösen verdammt, Eugenie wurde als die Rabenmutter abgestempelt, die ihrer Arbeit außer Haus nachgegangen war, anstatt sich um ihr behindertes Kind zu kümmern, und dieses einer ungelernten Person überlassen hatte, die nicht einmal Englisch sprach und keine Ahnung hatte, wie man ein krankes Kind betreute. Katja Wolff hatte man verteufelt, Eugenie Davies an den Pranger gestellt.
Sie hatte die öffentliche Geißelung als gerechten Lohn empfunden. »Es ist meine Schuld«, hatte sie gesagt. »Ich habe es nicht anders verdient.« Sie sprach mit einer ruhigen Würde, ohne alle Hoffnung und ohne alles Verlangen, auf Widerspruch zu stoßen. Nein, sie ließ Widerspruch gar nicht zu. »Ich möchte nur, dass es vorbei ist«, hatte sie gesagt.
Zwei Jahre nach dem Prozess traf er sie zufällig am Paddington-Bahnhof. Er war auf dem Weg zu einer Konferenz in Exeter. Sie war nach London gekommen, wie sie sagte, weil sie hier einen Termin hatte.
»Sie leben nicht mehr in London?«, hatte er gefragt. »Sind Sie aufs Land gezogen? Das wird dem Jungen sicher gut tun.«
Aber nein, die Familie lebte weiterhin in London. Nur sie war weggegangen.
»Oh, das tut mir Leid«, sagte er.
»Danke, Inspector Webberly.«
»Malcolm. Einfach Malcolm«, sagte er.
»Gut, dann einfach Malcolm.« Ihr Lächeln war tieftraurig.
Impulsiv und in Eile, weil in wenigen Minuten sein Zug abfahren würde, sagte er: »Würden Sie mir Ihre Telefonnummer geben, Eugenie? Ich würde gern ab und zu einmal nachfragen, wie es Ihnen geht. Als Freund. Wenn es Ihnen recht ist.«
Sie schrieb die Nummer auf die Zeitung, die sie bei sich hatte, und sagte: »Ich danke Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit, Inspector.«
»Malcolm«, erinnerte er sie.
Der Sommertag am Fluss war zwölf Monate später gewesen und
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