11 - Nie sollst Du vergessen
die Frau, aber es klang wie eine Frage, und sie neigte verwundert den Kopf, als sie sich Barbaras Ausweis ansah. Sie hatte etwa die gleiche Körpergröße wie Barbara - war also klein -, trug Bluejeans, Pulli und Turnschuhe und wirkte sehr fit. Sie musste, sagte sich Barbara, Eugenie Davies' Schwägerin sein. Sie war etwa im gleichen Alter, wenn auch das krause, volle Haar, das ihr über die Schultern fiel, gerade erst grau zu werden begann.
»Kann ich Sie einen Moment sprechen?«, fragte Barbara.
»Ja, natürlich.« Lynn Davies zog die Tür weiter auf, so dass Barbara in das Vestibül treten konnte, auf dessen Boden ein kleiner bestickter Teppich lag. In der Ecke stand ein Schirmständer, daneben war eine RattanGarderobe, an der zwei gleiche Ölmäntel hingen, beide leuchtend gelb und mit Schwarz abgesetzt.
Lynn Davies führte Barbara in ein Wohnzimmer mit einem Erker zur Straße. Dort lehnte auf einer Staffelei ein großes Blatt Zeichenpapier, ein halb fertiges Fingerfarbengemälde nach der Art zu urteilen, wie die Farben aufgetragen waren. Weitere Blätter - vollendete Werke - hingen, kreuz und quer mit Reißzwecken befestigt, an den Erkerwänden. Das unvollendete Gemälde auf der Staffelei war trocken. Es sah aus, als wäre der Künstler mitten aus dem Akt der Schöpfung herausgerissen worden; auf der einen Seite wanden sich drei schlingernde Linien zur Ecke hinunter, der Rest des Bildes hingegen schwelgte ihn fröhlichen, eigenwilligen Wirbeln und Spiralen.
Lynn Davies wartete schweigend, während Barbara den Blick im Erker umherwandern ließ.
Barbara sagte: »Ich nehme an, Sie sind durch Heirat mit Eugenie Davies verwandt.«
»Nein, das stimmt nicht ganz«, antwortete Lynn Davies und fragte sichtlich beunruhigt: »Worum geht es denn, Constable? Ist Mrs. Davies etwas zugestoßen?«
»Sie sind nicht Richard Davies' Schwester?«
»Ich war einmal mit Richard Davies verheiratet. Ich war seine erste Frau. Bitte, sagen Sie schon, was los ist. Ich bekomme langsam Angst. Ist Mrs. Davies etwas zugestoßen?« Sie verschränkte ihre Finger. »Es muss etwas passiert sein, sonst wären Sie nicht hier.«
Barbara stellte sich in Gedanken erst einmal um - von Richard Davies' Schwester auf Richard Davies' erste Frau und alles, was das möglicherweise bedeutete. Dann erklärte sie Lynn Davies den Grund ihres Besuchs und beobachtete die Frau aufmerksam.
Lynn Davies hatte einen olivfarbenen Teint mit dunkler schattierten Halbmonden unter den braunen Augen. Sie wurde blass, als sie Einzelheiten über den Unfall mit Fahrerflucht in West Hampstead hörte. »Mein Gott«, sagte sie leise und ging zu einer zerschlissenen alten Couchgarnitur, wo sie sich auf das Sofa sinken ließ. Vor sich hinstarrend, sagte sie zu Barbara: »Bitte, ich ...«
Dann wies sie mit einer Kopfbewegung zu einem Sessel, neben dem mehrere Kinderbücher aufgestapelt waren.
»Es tut mir Leid«, sagte Barbara. »Es ist ein Schock für Sie, das sehe ich.«
»Ich hatte keine Ahnung«, sagte Lynn Davies. »Dabei hat es sicher in den Zeitungen gestanden. Schon Gideons wegen. Und natürlich auch wegen - wegen der Art und Weise, wie sie ums Leben gekommen ist. Aber ich habe keine Zeitung gelesen - ich komme doch nicht so gut zurecht, wie ich dachte, und ... O Gott, die arme Eugenie. Dass es so enden musste!«
Mit der Reaktion einer verbitterten Exehefrau, die der Nachfolgerin hatte weichen müssen, hatte das wenig zu tun.
»Sie haben sie also gut gekannt?«, fragte Barbara.
»Seit Jahren.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Vergangene Woche. Sie kam zum Gottesdienst für meine Tochter. Darum habe ich keine Zeitung - darum wusste ich nicht ...« Lynn Davies rieb sich mit der flachen Hand über den Oberschenkel, als könnte sie sich auf diese Weise beruhigen.
»Letzte Woche ist ganz plötzlich meine Tochter Virginia gestorben, Constable. Ich wusste, dass es jederzeit geschehen könnte. Das wusste ich seit Jahren. Und trotzdem ist man nie so gut vorbereitet, wie man es sich wünschen würde.«
»Es tut mir Leid, das zu hören«, sagte Barbara.
»Sie war beim Malen, wie jeden Nachmittag. Ich war in der Küche und machte Tee. Ich hörte den Sturz und bin sofort zu ihr gelaufen. Aber da war es schon vorbei. Und im Moment der endgültigen Trennung, mit der ich immer hatte rechnen müssen, war ich nicht bei ihr. Ich war nicht zur Stelle, um von ihr Abschied zu nehmen.«
Wie bei Tony, dachte Barbara unwillkürlich, und es erschütterte sie, dass
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