11 - Nie sollst Du vergessen
plötzlich ihr Bruder sie aufsuchte und sie sich überhaupt nicht darauf vorbereitet hatte, ihn zu empfangen. Es war typisch für Tony, der ganz allein gestorben war. Keiner von der Familie war bei ihm gewesen. Es deprimierte sie, an Tony zu denken, an sein Dahinsiechen, an die Hölle, die mit seinem Tod über die Familie hereingebrochen war.
Sie sagte nur: »Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben müssen«, und spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte.
»Der Arzt sagte, sie sei auf der Stelle tot gewesen«, berichtete Lynn Davies. »Ich weiß, das sollte mir ein Trost sein. Aber wenn man fast ein Leben lang für ein Kind wie Virginia gesorgt hat - für immer klein, ganz gleich, wie groß sie wurde -, bricht erst einmal die Welt zusammen, wenn es einem so plötzlich genommen wird. Ich war danach nicht fähig, die Tageszeitung zu lesen, geschweige denn eine Zeitschrift oder ein Buch, und habe weder den Fernseher noch das Radio eingeschaltet, obwohl ich mich gern ablenken würde. Aber ich weiß, wenn ich das tue, werde ich vielleicht aufhören zu fühlen, und das möchte ich nicht. Durch das, was ich im Moment fühle - in jedem einzelnen Moment, verstehen Sie -, bleibe ich mit ihr verbunden. Wenn Sie das nachempfinden können.« Lynn Davies' Augen waren feucht geworden.
Barbara ließ ihr ein wenig Zeit. Sie musste selbst erst einmal verarbeiten, was sie soeben erfahren hatte. Zu den Erkenntnissen, die sie einzuordnen versuchte, gehörte die kaum vorstellbare Tatsache, dass Richard Davies offenbar nicht nur ein behindertes Kind gezeugt hatte, sondern deren zwei. Denn was sonst konnte Lynn Davies gemeint haben, als sie ihre Tochter als »für immer klein« bezeichnet hatte?
»Virginia war nicht ...« Es musste doch irgendeinen Euphemismus geben, sagte sich Barbara frustriert, und wenn sie aus Amerika gewesen wäre, diesem Mekka der »political correctness«, hätte sie wahrscheinlich ein Wort gewusst. So aber sagte sie schließlich verlegen: »Sie war nicht gesund?«
»Meine Tochter war von Geburt an geistig behindert, Constable. Sie hatte den Körper einer Frau und den Geist eines dreijährigen Kindes.«
»Oh! Das tut mir Leid.«
»Sie hatte außerdem einen schweren Herzfehler. Wir mussten von Anfang an damit rechnen, dass sie eines Tages viel zu früh daran sterben würde. Aber ihr Wille war stark. Zur Überraschung aller lebte sie zweiunddreißig Jahre.«
»Hier bei Ihnen?«
»Es war für uns beide kein leichtes Leben. Aber wenn ich bedenke, was hätte sein können, bedaure ich nichts. Ich habe damals, als meine Ehe zu Ende war, mehr gewonnen als verloren. Und letztlich konnte ich es Richard ja nicht übel nehmen, dass er mich um die Scheidung bat.«
»Und er hat sich dann wieder verheiratet und bekam ein zweites -« Wieder fehlte ihr ein freundlicher Ausdruck.
Lynn Davies formulierte es nach ihrem Empfinden. »Ein zweites Kind, das nach unseren gängigen Maßstäben nicht vollkommen war. Ja, Richard bekam noch so ein Kind, und diejenigen, die an die Rache der Götter glauben, werden vielleicht behaupten, das sei seine Strafe dafür gewesen, dass er Virginia und mich im Stich gelassen hat.
Aber ich glaube nicht, dass das dem Wirken Gottes entspricht. Richard hätte im Übrigen niemals verlangt, dass wir gehen, wenn ich bereit gewesen wäre, weitere Kinder in die Welt zu setzen.«
»Er hat verlangt, dass Sie gehen?« Was für ein Prachtmensch, dachte Barbara. Darauf konnte man als Mann doch echt stolz sein - es fertig gebracht zu haben, eine Frau und ein geistig behindertes Kind vor die Tür zu setzen.
Lynn Davies erklärte hastig: »Wir lebten damals mit seinen Eltern zusammen in dem Haus, in dem er selbst aufgewachsen war. Es wäre absurd gewesen, wenn Richard gegangen wäre und Virginia und ich nach der Trennung geblieben wären und weiterhin mit Richards Eltern zusammengelebt hätten. Das war im Übrigen ein Teil des Problems: das Zusammenleben mit Richards Eltern. Sein Vater war unerbittlich, was Virginia anging. Er wollte sie weggeben. Unbedingt. Er ließ nicht locker. Und Richard war ... ihm war die Anerkennung seines Vaters ungeheuer wichtig. Nur darum ließ er sich auf die Seite seines Vaters ziehen und sprach sich ebenfalls dafür aus, Virginia in einem Heim unterzubringen. Aber das machte ich nicht mit. Es war schließlich ...«
Ihre Augen spiegelten ihren Schmerz, und sie hielt einen Moment inne, bevor sie mit ruhiger Würde sagte: »Sie war unser Kind. Sie konnte nichts dafür, dass
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