11 - Nie sollst Du vergessen
sie behindert zur Welt gekommen war. Wie hätten wir uns anmaßen können, sie einfach wegzuwerfen? Anfangs dachte Richard wie ich, bis sein Vater ihn umgestimmt hat.«
Sie blickte zum Erker hinüber, zu den farbenfrohen Bildern an den Wänden, und sagte: »Jack Davies war ein schrecklicher Mann. Ich weiß, dass er im Krieg unerhört gelitten hat. Ich weiß, dass sein Geist zerstört war und man ihm seine Gemeinheiten nicht zum Vorwurf machen konnte. Aber dass er ein unschuldiges Kind so sehr hasste, dass es nicht mit ihm in einem Raum sein durfte ... Das war unrecht, Constable. Das war ein furchtbares Unrecht.«
»Es muss die Hölle gewesen sein«, sagte Barbara.
»Eine Form davon, ja. ›Gott sei Dank ist sie nicht von meinem Blut‹, sagte er immer. Und Richards Mutter murmelte dann jedes Mal: ›Jack, Jack, das ist doch nicht dein Ernst‹, dabei merkte man genau, dass er Virginia am liebsten vom Erdboden hätte verschwinden lassen, wenn es ein einfaches Mittel gegeben hätte, das zu bewerkstelligen.« Lynn Davies' Lippen bebten. »Und jetzt ist sie tot. Wie würde Jack sich freuen.«
Sie schob eine Hand in die Hosentasche und zog ein zerknittertes Papiertaschentuch heraus, mit dem sie sich die Augen abtupfte. »Entschuldigen Sie. Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie so mit meinen Problemen überfallen habe. Ich hätte das nicht - ach, mein Gott, sie fehlt mir so sehr.«
»Natürlich«, sagte Barbara. »Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken.«
»Und jetzt Eugenie«, sagte Lynn Davies. »Wie kann ich da weiterhelfen? Denn ich nehme doch an, deswegen sind Sie hier. Nicht nur, um mich zu informieren, sondern um mich um meine Hilfe zu bitten.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass zwischen Ihnen und Mrs. Davies eine Bindung bestand. Durch Ihre Kinder.«
»Nein, zu Anfang nicht. Wir lernten uns erst nach Sonias Tod kennen. Da stand Eugenie eines Tages vor meiner Tür. Sie wollte reden. Ich habe ihr zugehört.«
»Danach sahen Sie sich regelmäßig?«
»Ja. Sie besuchte mich häufig. Sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte - wem in ihrer Situation wäre das anders gegangen? -, und ich war froh, für sie dasein zu können. Denn mit Richard konnte sie nicht sprechen. Es gab zwar noch eine katholische Nonne, der sie vertraute, aber die Frau war eben keine Mutter. Und genau das brauchte Eugenie damals, eine Freundin, die auch Mutter war, am besten Mutter eines Kindes, das ›anders‹ war. Sie kam beinahe um vor Schmerz und Trauer, und in dieser Familie konnte keiner ihre Gefühle verstehen. Aber sie wusste von mir und Virginia, weil Richard ihr kurz nach der Heirat von uns erzählt hatte.«
»Nicht vorher? Das ist aber ungewöhnlich.«
Lynn Davies lächelte resigniert. »Das ist typisch Richard Davies, Constable. Er zahlte Unterhalt für Virginia, bis sie volljährig war, aber er hat sie nach der Trennung nicht ein einziges Mal gesehen. Ich dachte, er würde vielleicht zur Beerdigung kommen. Ich hatte ihn von ihrem Tod benachrichtigt. Aber er hat nur Blumen geschickt. Das war alles.«
»Großartig«, sagte Barbara.
»So ist er eben. Kein schlechter Mensch, aber nicht gerüstet, mit einem behinderten Kind umzugehen. Das ist nun mal nicht jedem gegeben. Ich hatte immerhin eine praktische Ausbildung als Krankenpflegerin, Richard hingegen - was hatte er schon außer seiner kurzen Karriere beim Militär? Außerdem wollte er unbedingt den Namen der Familie erhalten, und das hieß natürlich, dass er sich eine zweite Frau suchen musste. Was sich ja auch als glückliche Entscheidung erwies, nicht wahr? Eugenie hat ihm Gideon geboren.«
»Das große Los!«
»In gewisser Weise, ja. Aber ich denke, ein Wunderkind in der Familie bringt für die Eltern auch eine ungeheure Verantwortung mit sich. Eine Verantwortung anderer Art, natürlich, aber sicherlich ebenso schwierig.«
»Eugenie Davies hat sich nicht dazu geäußert?«
»Sie hat kaum über Gideon gesprochen. Und nach ihrer Scheidung von Richard überhaupt nicht mehr. Auch nicht über Richard oder die anderen. Wenn sie uns besuchte, half sie mir meistens bei Virginias Betreuung. Sie ging leidenschaftlich gern in den Park, Virginia, meine ich, und auf Friedhöfe. Das Schönste für sie war ein Streifzug über den Camberwell-Friedhof. Aber ich unternahm solche Ausflüge nur ungern, wenn nicht jemand dabei war, der mir bei der Beaufsichtigung Virginias helfen konnte. Wenn ich mit ihr allein unterwegs war, musste ich mich ständig auf sie konzentrieren
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