11 - Nie sollst Du vergessen
des Treppengeländers, als sie dagegen schlug. Das Gewicht ihres Körpers beschleunigte den Fall, so dass nicht einmal der dürftige Ersatz für eine Zwischenetage - diese eine völlig unzureichende, etwas breitere Stufe, die Jill so hasste - sie aufhalten konnte und sie weiter stürzte bis hinunter ins Erdgeschoss.
Es geschah nicht in Sekundenschnelle. Es zog sich über eine Zeitspanne von solcher Länge hin, dass es wie eine Ewigkeit schien. Und mit jeder Sekunde, die verging, gewann Gideon, im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte und nicht durch einen Gipsverband behindert, der sein Bein vom Fuß bis zum Knie umschloss, mehr Abstand von seinem Vater. Und nicht nur Abstand, sondern vor allem gewann er Gewissheit. Und das durfte nicht sein!
Richard humpelte die Treppe hinunter, so schnell er es schaffte. Unten lag Jill, reglos, mit schlaffen Gliedern. Als er zu ihr trat, begannen ihre Augenlider, die im schwachen Licht, das durch die Foyerfenster fiel, blau aussahen, zu flattern, und ihre Lippen öffneten sich zu einem Stöhnen.
»Mama«, flüsterte sie.
Ihr Rock war hochgerutscht, ihr gewölbter Bauch auf obszöne Weise entblößt. Ihr Mantel lag wie ein riesiger Fächer über ihrem Kopf ausgebreitet.
»Mama?«, flüsterte sie wieder. Dann ächzte sie. Dann schrie sie auf und drückte ihren Rücken durch.
Richard kniete neben ihrem Kopf nieder. Hektisch durchsuchte er die Taschen ihres Mantels. Er hatte doch gesehen, wie sie die Schlüssel in ihre Manteltasche geschoben hatte. Verdammt noch mal, er hatte es doch gesehen! Er musste die Schlüssel finden. Wenn ihm das nicht gelang, würde Gideon bald über alle Berge sein, und er musste zu ihm, musste mit ihm sprechen, ihm erklären Die Schlüssel waren nicht da. Richard fluchte. Er richtete sich auf. Er kehrte zur Treppe zurück und begann, sich in panischer Hast die Stufen hinaufzuziehen. Zu seinen Füßen rief Jill laut:
»Catherine«, und Richard zog sich am Treppengeländer hoch und keuchte wie ein Sprinter und dachte nur daran, wie er seinen Sohn aufhalten könnte.
Wieder in der Wohnung, suchte er nach Jills Handtasche. Sie lag neben dem Sofa auf dem Boden. Er hob sie auf, kämpfte mit dem idiotischen Verschluss. Seine Hände zitterten. Seine Finger waren ungeschickt. Er schaffte es nicht - Es klingelte irgendwo. Er hob den Kopf, schaute sich im Zimmer um. Aber da war nichts. Er konzentrierte sich wieder auf die Handtasche. Es gelang ihm, den Verschluss zu öffnen, und er riss die Tasche mit einem Ruck auf und leerte ihren Inhalt auf das Sofa.
Es klingelte irgendwo. Er ignorierte es. Er wühlte in Lippenstiften, Puderdosen, Scheckbuch, Geldbörse, zusammengeknüllten Papiertüchern, Kugelschreibern - und dann hatte er sie. Fünf Schlüssel an dem vertrauten Chromring, zwei messingfarben, drei silbern. Einer für ihre Wohnung, einer für seine, einer für das Haus ihrer Eltern in Wiltshire und zwei für den Humber, Zündung und Kofferraum. Er nahm sie an sich.
Es klingelte irgendwo. Lang, laut, nachdrücklich diesmal. Augenblickliche Kenntnisnahme fordernd.
Er fluchte, stellte endlich fest, woher das Klingeln kam.
Die Glocke unten an der Haustür. Gideon? Gott, Gideon? Aber er hatte einen eigenen Schlüssel. Er würde nicht läuten.
Immer noch klingelte es. Richard beachtete es nicht mehr. Er eilte zur Wohnungstür.
Das Läuten hörte endlich auf. In Richards Ohren rauschte nur sein eigener Atem. Er klang wie das Heulen verlorener Seelen, und Schmerz begleitete ihn, Schmerz, der brennend sein rechtes Bein hinaufkroch und gleichzeitig pochend seinen ganzen rechten Arm von der Hand bis zur Schulter durchzog. Er hatte Seitenstechen vor Erschöpfung und konnte nicht mehr richtig durchatmen.
Oben an der Treppe blieb er stehen und blickte nach unten. Sein Herz hämmerte zum Zerspringen. Sein Brustkorb hob und senkte sich in tiefen Atemzügen. Die Luft, die er einsog, war feucht und schal.
Er begann, die Stufen hinunterzusteigen. Er hielt sich am Geländer fest. Jill hatte sich nicht gerührt. Konnte sie? Würde sie? Es spielte kaum eine Rolle, solange Gideon auf der Flucht war.
»Mama? Hilfst du mir?« Ihre Stimme war schwach. Aber Mama war nicht da. Mama konnte nicht helfen.
Aber Daddy war da. Daddy konnte helfen. Er würde immer da sein. Nicht diese Gestalt der Vergangenheit, erfüllt von einem schlauen Wahnsinn, der kam und ging und den Weg versperrte zu Daddy. Ja, mein Sohn, du bist mein Sohn. Sondern der Daddy der Gegenwart, der nicht
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