11 - Nie sollst Du vergessen
noch Leben abgerungen werden konnte.
Webberly hockte neben dem Papierkorb nieder und richtete ihn vorsichtig mithilfe eines Kugelschreibers wieder auf, um einen Blick hineinzuwerfen. Sechs zerknüllte Papiertücher, ein Stück Zahnseide, eine flach gedrückte Tube Zahnpasta. »Sehen Sie im Apothekerschränkchen nach, Eric«, sagte er zu Leach, während er wieder an die Wanne trat und alles mit prüfendem Blick musterte - die Wände, die Armaturen und den Wasserhahn, den Kitt rund um die Wanne, das Wasser in ihr. Nichts.
Leach sagte: »Kinderaspirin, Hustensaft, verschiedene Medikamente. Fünf insgesamt. Alle rezeptpflichtig. Mit Namensschildchen.«
»Auf wen ausgestellt?«
»Alle auf Sonia Davies.«
»Notieren Sie die Namen der Medikamente. Dann versiegeln Sie den Raum. Ich spreche jetzt mit den Eltern.«
Aber unten im Wohnzimmer erwarteten ihn nicht nur die Eltern des Kindes. Es lebte noch eine Anzahl anderer Menschen im Haus, und die Hausbewohner waren nicht allein gewesen, als das Unglück sie aus der Abendruhe gerissen hatte. Der Raum wirkte überfüllt, obwohl nur neun Personen anwesend waren: acht Erwachsene und ein kleiner Junge mit weißblondem Haar, das ihm auf sehr ansprechende Art in die Stirn fiel. Mit blassem Gesicht stand er in der schützenden Umarmung eines alten Mannes, vermutlich seines Großvaters, an dessen Schlips - Andenken an irgendeine Universität oder einen Klub - er sich mit einer Hand krampfhaft festklammerte.
Niemand sprach. Sie schienen alle im Schock, zusammengeschart, um einander zu stützen und zu trösten, so gut sie es vermochten. Die Fürsorge galt vor allem der Mutter, einer Frau in den Dreißigern, wie Webberly, mit bleichem Gesicht, in dem die Augen übergroß wirkten, gehetzt, als sähen sie immer wieder, was keine Mutter je sehen müssen sollte: ihr Kind in den Händen Fremder, die um sein Leben kämpften.
Als Webberly sich vorstellte, stand einer der beiden Männer auf, die sich bisher um die Mutter bemüht hatten. Er sei Richard Davies, sagte er, der Vater des Kindes, das ins Krankenhaus gebracht worden war. Warum er es so schonend ausdruckte, verriet der Blick zu dem kleinen Jungen, seinem Sohn. Er wollte verständlicherweise nicht vor ihm vom Tod seiner kleinen Schwester sprechen. »Wir waren im Krankenhaus«, sagte er. »Meine Frau und ich. Man sagte uns -«
Die junge Frau, die im Arm eines etwa gleichaltrigen Mannes auf dem Sofa saß, begann zu weinen. Es war ein schreckliches, röchelndes Weinen, das schnell zu einem hysterischen Schluchzen wurde. »Ich habe sie nicht allein gelassen«, rief sie keuchend, und Webberly hörte deutlich den deutschen Akzent in ihrer Aussprache. »Ich schwöre es, ich habe sie keine Minute allein gelassen.«
Was natürlich die Frage herausforderte, wie das Kind dann umgekommen war.
Sie mussten alle befragt werden, aber nicht gleichzeitig. Webberly wandte sich zunächst an die junge Deutsche: »Sie waren für das Kind verantwortlich?«
Woraufhin die Mutter sagte: »Ich habe das über uns gebracht!«
»Eugenie!«, rief Richard Davies, und der andere Mann mit dem schweißfeuchten Gesicht, der bei ihr stand, sagte: »So etwas darfst du nicht sagen, Eugenie.«
Der Großvater erklärte: »Wir wissen doch alle, wer schuld ist.«
Die Deutsche jammerte: »Nein! Nein! Ich habe sie nicht allein gelassen«, und der junge Mann neben ihr sagte: »Ist schon okay«, was es nun wahrhaftig nicht war.
Zwei Personen sprachen kein Wort: eine alte Frau, die unverwandt den Großvater fixierte, und eine rothaarige junge Frau im adretten Faltenrock, die mit unverhüllter Abneigung die Deutsche beobachtete.
Zu viele Menschen, zu viele Emotionen und wachsende Verwirrung. Webberly bat alle, bis auf die Eltern, sich zurückzuziehen.
»Aber bleiben Sie im Haus«, gebot er. »Und irgendjemand muss sich um den Jungen kümmern.«
»Ich«, sagte die Rothaarige, offensichtlich die »Erzieherin«, von der der Constable gesprochen hatte. »Komm, Gideon. Wir nehmen uns mal dein Mathebuch vor.«
»Aber ich muss doch üben«, entgegnete der Junge mit ernstem Blick in die Runde der Erwachsenen. »Raphael hat gesagt -«
»Es ist schon in Ordnung, Gideon. Geh du ruhig mit Sarah-Jane.« Der Mann mit dem schweißnassen Gesicht entfernte sich von der Mutter und kauerte vor dem Jungen nieder. »Mach dir jetzt um deine Musik keine Gedanken. Geh mit Sarah-Jane, ja?«
»Komm, Junge.« Mit dem Kleinen auf dem Arm, stand der Großvater auf. Die anderen folgten ihm aus
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