11 - Nie sollst Du vergessen
Diese Worte gingen Webberly durch den Kopf, als er jetzt schwerfällig von der Parkbank aufstand. Vier schlichte Worte, im Ton tiefsten Elends gesprochen, die sein Leben verändert hatten: die aus dem Kriminalbeamten den Ritter ohne Furcht und Tadel gemacht hatten.
Weil sie, dachte er jetzt, als er nach Alfie rief, eine so besondere Mutter gewesen war. Eine Mutter, wie Frances sie nie hätte sein können. Das musste man bewundern. Einer solchen Mutter musste man als Mann einfach helfen wollen.
»Alfie, komm jetzt!«, rief er laut, als der Hund einem Terrier mit einem Frisbee im Maul nachlief. »Nach Hause. Komm! Ich lass dich auch frei laufen.«
Als hätte der Hund dieses letzte Versprechen verstanden, kam er zurückgerannt und blieb japsend und mit hängender Zunge vor Webberly stehen. Er hatte für diesen Morgen offensichtlich genug Auslauf gehabt. Mit einer Kopfbewegung beorderte Webberly ihn zum Parktor, wo er sich gehorsam setzte und seinen Herrn in Erwartung einer Belohnung mit wachem Blick fixierte.
»Nachher, wenn wir zu Hause sind«, sagte Webberly. Den ganzen Heimweg gingen ihm diese Wort durch den Kopf.
Sehr passend, eigentlich. Letztendlich und über allzu viele Jahre hinweg war alles, was in Webberlys armseligem kleinen Leben von Bedeutung war, auf »nachher« verschoben worden.
Lynley sah, dass Helen, die noch im Bett lag, höchstens einen Schluck von ihrem Tee getrunken hatte. Doch sie hatte sich herumgedreht und sah ihm beim Kampf mit seiner Krawatte zu, während er sie im Spiegel beobachtete.
»Malcolm Webberly hat sie also gekannt?«, fragte sie. »Nicht schön für ihn. Und noch dazu an seinem Hochzeitstag.«
»Ich glaube nicht, dass er persönlich mit ihr bekannt war«, erwiderte Lynley. »Sie war eine der Hauptbetroffenen in seinem ersten Fall als frisch gebackener Inspector in Kensington.«
»Das muss ja dann Jahre her sein. Die Sache hat offenbar einen ungeheuren Eindruck bei ihm hinterlassen.«
»Ja, vermutlich.« Lynley wollte nicht näher auf die Geschichte eingehen. Er wollte Helen überhaupt nichts von diesem lang zurückliegenden Unglück erzählen, bei dem Webberly damals ermittelt hatte. Wenn ein Kind ertrank, war das immer schrecklich, und ein solches Thema, fand Lynley, müsse man gerade jetzt, da ihr gemeinsames Leben - Helens und seines - eine neue Wendung genommen hatte und Helen selbst ein Kind erwartete, nicht unbedingt erörtern.
Unser Kind, dachte er, ein Kind, dem niemals ein Leid geschehen würde. Wenn man sich gerade da über den tragischen Tod eines anderen Kindes ausließ, erschien das wie eine Herausforderung des Schicksals. Das jedenfalls sagte sich Lynley, während er sich dem Ritual der Morgentoilette widmete.
Im Bett warf sich Helen auf die andere Seite, sodass sie ihm jetzt den Rücken zuwandte, zog die Knie hoch und drückte sich stöhnend ein Kissen auf den Bauch.
Lynley ging zu ihr, setzte sich auf die Bettkante und strich ihr über das kastanienbraune Haar. »Du hast deinen Tee kaum angerührt«, sagte er. »Möchtest du etwas anderes haben?«
»Ich möchte ganz einfach, dass diese fürchterliche Übelkeit endlich aufhört.«
»Was sagt denn die Ärztin?«
»Ach, die ist ein echter Quell der Weisheit: ›lch habe die ersten vier Monate jeder Schwangerschaft in Anbetung der Toilettenschüssel verbracht. Das geht vorbei, Mrs. Lynley. Glauben Sie mir.‹«
»Und bis dahin?«
»Denken Sie an was Schönes. Nur nicht gerade an was zu essen.«
Lynley betrachtete sie voller Liebe: den sanften Schwung ihrer Wange, das zarte Ohr, das wie eine vollendet geformte Muschel an ihrem Kopf anlag. Aber ihre Haut war bleich mit einem Stich ins Grünliche, und sie hielt das Kissen so krampfhaft umklammert, als rollte schon die nächste Welle der Übelkeit heran.
»Ich wollte, ich könnte dir das abnehmen, Helen«, sagte er.
Sie lachte schwach. »So was sagt ihr Männer immer, wenn ihr ein schlechtes Gewissen habt. Dabei wisst ihr ganz genau, dass ihr nie im Leben freiwillig ein Kind zur Welt bringen würdet.« Sie griff nach seiner Hand. »Trotzdem danke für die guten Worte. Gehst du jetzt? Versprich mir, dass du vorher frühstückst, Tommy.«
Er versprach es. Ein Entkommen gab es sowieso nicht. Wenn nicht Helen ihn zum Essen zwang, dann stand Charlie Denton - Butler, Diener, Koch, Theaterfan und unverbesserlicher Don Juan - vor der Tür Wache, bis er wenigstens ein paar Bissen gegessen hatte.
»Und was hast du heute vor?«, fragte er Helen. »Arbeitest
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