110 - Herrin der Seelen
besonders schlecht. Er mußte nicht ganz zwei Stunden bewußtlos gewesen sein, denn als er durch das kleine Fenster sah, hatte die Sonne den Zenit schon überschritten.
Dorian wollte sich aufsetzen, aber er konnte es nicht. Er war nicht etwa zu schwach, sondern etwas hielt ihn nieder. Er stieß gegen ein unsichtbares Hindernis. Erst gab es etwas nach, aber, dann ging es nicht weiter.
Dorian oder vielmehr der Tippelbruder, den er darstellte, war nackt. Eine leichte Decke lag über seinem Körper. Mit eisigem Schrecken dachte Dorian an seine magischen Werkzeuge, die wie seine Kleider verschwunden waren.
Die Kuckucksuhr an der Wand begann zu knarren. Die Zeiger standen auf ein Uhr. Dorian schaute auf das Türchen der Uhr. Es öffnete sich, und zu seiner Überraschung kam eine Rune heraus, ein Zeichen, das wie ein Dreizack aussah. Ein Stöhnen war zu hören, einmal nur.
Dorian wurde es unheimlich zumute. Er wußte, daß es hier nicht mit rechten Dingen zuging. Wer mochte in einem solchen Haus wohnen und eine Runenkuckucksuhr haben, die zu jeder vollen und halben Stunde unheimlich stöhnte?
Dorian schüttelte den Kopf. Die Rune verschwand in der Uhr. Der Dämonenkiller versuchte sich zu konzentrieren und mit Weißer Magie den Bann zu durchbrechen, der ihn niederhielt. Er bemerkte gleich, daß es sich um einen starken Zauber handelte.
Da öffnete sich die Tür. Eine Frau kam herein. Dorian schaute zuerst ihre Kleider und ihre Haare an, weil er ihr Gesicht nicht unvorbereitet längere Zeit anblicken konnte, ohne davon gebannt zu sein. Sie trug ein schwarzes, langes Kleid mit schwarzen Rüschen an den Handgelenken und einer Halskrause. Ihr rotes Haar war onduliert und zu einer Lockenfrisur aufgetürmt. Es glänzte, als sei Blut hineingestrichen. Um den Hals trug die Frau eine dreireihige Kette, die alle Zeichen der verschiedenen Runenalphabete zeigte.
Nachdem er seine geistige Energie gesammelt hatte, um ihr widerstehen zu können, schaute Dorian ihr ins Gesicht. Es war herb und herrisch, streng und maskulin. Die Frau wirkte vornehm und hochmütig, und ihre dunklen Augen waren stechend und schauten verächtlich drein. Sie hatte wenige Falten; trotzdem schien sich hinter diesem verhältnismäßig glatten Gesicht ein Alter zu verbergen, daß kein normaler Mensch erreichen konnte.
„Ah!" sagte sie in einem akzentfreien Hochdeutsch. „Du bist aufgewacht. Wie hast du zu mir hergefunden? Normalen Sterblichen ist mein Haus im Blumenfeld nicht ohne weiteres zugänglich."
Sicher hatte sie ihr Haus durch Magie geschützt. Ein zufälliger Spaziergänger oder ein Hubschrauberpilot, der über den Bayerischen Wald flog und Ausschau hielt, konnte es gar nicht wahrnehmen. Dorian nahm an, daß ihn der Kommandostab hergeführt hatte. Wie von einer Kompaßnadel war Dorian durch ihn geleitet worden, während er durch den Wald wankte und nach einem starken Magnetfeld suchte. Entweder hatte die Runenhexe, wie Dorian sie bei sich nannte, ihm ihr Haus geöffnet, oder der Tarnzauber war von Dorians magischen Werkzeugen zunichte gemacht worden.
„Wer sind Sie?" fragte Dorian, der seine Rolle als Tippelbruder zu spielen gedachte. „Und wie komme ich hier herein?"
Die Frau lachte. Es war kein freundliches und angenehmes Lachen.
„Ich habe dich hereingetragen, Söhnchen", sagte sie, „entkleidet, gewaschen und ins Bett gelegt wie einen Säugling. Du kannst mich Futhark nennen. Meinen richtigen Namen habe ich abgelegt. Ich gebrauche ihn nicht mehr gern."
Die Bezeichnung Futhark war Dorian bekannt. Nach seinen ersten sechs Buchstaben wurde das altgermanische Runenalphabet so genannt.
Die Runenhexe setzte sich auf den Rand von Dorians Bett. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, die kalt und trocken wie die einer Leiche war.
„Sag mir, Söhnchen, wer hat dir eine Silberkugel in den Balg geschossen und weshalb?"
Dorian machte große Augen. Er spielte seine Rolle meisterhaft.
„Oh, Frau Futhark", sagte er mit heiserer Stimme, „wenn Sie vielleicht einen klitzekleinen Schnaps für mich hätten? Ich habe schon seit drei Tagen nichts mehr geso… Äh, nichts mehr zu mir genommen. Ich weiß gar nicht mehr, was oben und unten ist. Stellen Sie sich vor, ich wandere so durch den Bayerischen Wald, an Winden vorbei, und will mich auf der Bank vor dem Friedhof ein bißchen ausruhen. Plötzlich ein Geschrei zwischen den Gräbern. Ich springe auf. Schüsse knallen, und dann rennt eine haarige Gestalt aus dem Friedhofstor, über und über mit Blut
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