1108 - Leichengasse 13
nicht akzeptieren. Sie rückte näher an mich heran. Mit der freien Hand streichelte sie mein Gesicht. »Oder gefalle ich dir nicht, John?« Ihre Stimme hatte sich verändert. Sie war leise geworden und leicht singend. »Du hast mich doch gerettet. Ich kann sehr dankbar sein, glaube mir.«
»Das glaube ich dir, Fay. Vielleicht später einmal.«
»Ich kann nicht allein bleiben.«
»Das bist du doch immer geblieben.«
»Aber heute ist es anders. Ich spüre es. Die Nacht ist noch nicht vorbei. Es rumort, verstehst du? Etwas ist hier geweckt worden, das ich nicht fassen kann. Es hält sich noch versteckt, aber nicht mehr lange. Laß mich dann mit dir gehen.«
Es war ein Vorschlag und zugleich ein Kompromiß, dem ich zustimmte, um Fay nicht noch stärker in die Enge zu treiben und mit ihrer Angst allein zu lassen. »Wenn dein Seelenheil davon abhängt, soll es mir recht sein.«
Sie drehte sich, ließ mich los und sprang aus dem Bett. »Danke, John, danke, ich ziehe mir nur etwas über.«
»Ich warte dann draußen.«
»Wo denn?«
»Im Flur oder vor der Haustür.«
»Ja, ich beeile mich auch.«
Ich ging in die Küche, in der sich nichts verändert hatte. Es roch noch immer leicht nach Gin. Dann verließ ich die Wohnung und blieb im dunklen Flur stehen.
Nichts hatte sich hier im Haus verändert. Es war noch immer stockfinster und auch sehr still. Die Ruhe war wie eine Last.
Die Treppe nach oben deutete sich nur an. Ich konnte mir vorstellen, daß auf jeder Stufe einer dieser gefährlichen Schatten hockte, die ich im Zimmer der jungen Fay gesehen hatte.
Über sie war ich mir noch nicht klargeworden und wußte auch nicht, welche Rolle sie genau spielte.
War sie wichtig in diesem vertrackten dämonischen Spiel?
Es konnte sein, deshalb war ich entschlossen, sehr vorsichtig zu sein. Für mich stand fest, daß diese Leichengasse und nicht nur Fay Waldon unter einem fremden Einfluß stand, der von einem Mittelpunkt aus gelenkt wurde.
Hinter mir hörte ich Schritte. Fay hatte die Wohnung verlassen. Sie machte Licht. Eine sehr trübe Umgebung umgab mich. Das Haus roch alt, muffig und auch feucht, als läge unter ihm etwas Schreckliches in der Tiefe verborgen.
»Gibt es hier auch einen Keller?« fragte ich.
»Ja!«
»Oh.«
»Aber der Zugang ist verriegelt. Man kommt nicht hinein. Mit Brettern zugenagelt.«
»Warum?«
»Ich habe keine Ahnung.« Fay ging zur Haustür und öffnete sie. Das Thema war für sie erledigt, und sie trat hinaus ins Freie.
***
Auch ich hatte das Haus verlassen. Neben Fay Waldon blieb ich stehen und atmete die kühlere Luft ein. Sie war nicht klar, sondern von einer alten Feuchtigkeit erfüllt, die aus den Hausmauern zu drängen schien. Es regnete nicht. Es floß auch kein Bach in der Nähe, trotzdem lag ein leichter Dunstfilm über der alten Gasse, in der sich auf den ersten Blick nichts verändert hatte. Trotzdem war es anders geworden. Ich war sensibel genug, um es mit jeder Faser meines Körpers zu spüren.
Die Leichengasse war wieder »normal« geworden. Die Gefahr, bei meinem ersten Besuch schon nicht sichtbar, sondern nur zu spüren gewesen, hatte sich zurückgezogen und das Gebiet wieder der Normalität einer völlig alltäglichen Nacht überlassen.
Ob das auch so stimmte, mußte ich erst herausfinden. Ich hatte die Straße betreten und Fay war dicht an meiner Seite gewesen. Sie trug jetzt eine lange Hose und einen gestreiften Pullover, der sich eng an ihren Körper drückte.
Grau in Grau. Abgesehen von einer müden Laterne, die nur einen spärlichen Lichtschein gab. Keine Lichter hinter den Fenstern. Eingeschlafen und tot wirkte die Straße. Man konnte sich kaum vorstellen, daß hier Menschen lebten. Zudem war sie eine Sackgasse, und ich wollte von Fay wissen, was dahinter lag.
»Nichts mehr, John.«
»Komm, das glaube ich dir nicht.«
»Doch, ja. Es ist ein brachliegendes Gelände. Man hatte vorgehabt, dort Häuser zu bauen. Das ist nicht passiert. Jetzt wuchert das Unkraut in die Höhe. Es lohnt sich nicht, dorthin zu gehen. Ein Ort für Ratten und anderes Getier.«
»So ist das also.«
»He.« Sie stieß mich an. »Willst du etwa nachschauen?«
»Ich weiß es nicht.« Langsam ging ich weiter. Ich schleifte mit den Sohlen über das Kopfsteinpflaster hinweg.
Das unregelmäßig gelegte Kopfsteinpflaster bildete einen hügeligen Belag. Manche Steine standen so hoch, als wären sie von der Tiefe her aus ihrem Verbund gelöst und nicht wieder richtig hineingedrückt
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