1108 - Leichengasse 13
Mr. Sinclair. Ja, es stimmt. Ich habe… ich meine, ich spüre noch den Geschmack im Mund. So alt, aber auch nach Gin.«
»Sehen Sie!«
Für einen Moment war sie fassungslos und schlug die Hände vors Gesicht. »Meine Güte, was ist da nur alles passiert? Ich kann es einfach nicht fassen. Ich bin doch nicht betrunken gewesen, und Sie waren es auch nicht.«
»Nein.«
Sie blickte auf ihre Kleidung, die auf dem Bett lag. »Und ich habe mich hier ausgezogen?«
»Das haben Sie.«
Sie hatte Mühe, die nächste Frage zu stellen. »Was noch? Was ist noch passiert?«
»Nicht, was sie denken, Fay. Ich habe die Lage nicht ausgenutzt, wenn Sie das gemeint haben. Es war alles okay. Außerdem haben Sie sich dann verändert und sind wieder normal geworden. Soll ich Ihnen sagen, wie ich es sehe?«
»Bitte - ja.«
»Es ist zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens etwas passiert. In diesem Haus haben sich Dinge ereignet, die nur schwer zu erklären sind. Ich weiß auch nicht, ob sie allein auf das Haus mit der Nummer dreizehn beschränkt geblieben sind oder ob die gesamte Gasse in Mitleidenschaft gezogen wurde. Auf jeden Fall muß etwas anders geworden sein, das mit dem normalen Leben nicht mehr zu vergleichen ist. Sie und ich, wir sind herausgerissen worden. Sie, Fay, stärker als ich. Das müssen wir uns beide zugestehen.«
»Aber was ist es gewesen?« rief sie gequält. »Es ist mir alles zu ungenau.«
»Mir ebenfalls, Fay. Aber ich kann Ihnen keine andere Antwort geben. Ich würde sehr gern konkret werden. Leider ist mir das noch nicht möglich. Aber es ist etwas anderes über uns gekommen. Ich würde es als andere Macht bezeichnen, durch die sie stärker in Mitleidenschaft gezogen wurden als ich.«
»Das bringt uns nicht weiter.«
»Stimmt.« Ich lächelte sie an. »Aber Sie könnten mir vielleicht helfen, Fay.«
»Wie denn?«
»Sie wohnen hier und…«
»Ja.«
»Lassen Sie mich ausreden, bitte. Ich glaube nicht, daß dieses Phänomen zum erstenmal aufgetreten ist. Ich kann mir vorstellen, daß Sie, Fay, schon öfter diese Erlebnisse gehabt haben. Daß etwas mit Ihnen passiert ist…«
»Ich habe nie unangemeldeten Besuch in der Nacht erhalten. Das müssen Sie mir glauben.«
»Stimmt, keine Widerrede. Trotzdem sollten Sie genau nachdenken. Lief in Ihrem Leben oder in der Zeit, in der Sie hier wohnten, tatsächlich immer alles so normal ab, wie Sie es sich gewünscht hätten? Oder hat es schon öfter Schwierigkeiten gegeben? Geschah etwas, mit dem Sie nicht zurechtkamen? Ein Ereignis in der Nacht? Daß sich etwas bei Ihnen veränderte?«
Sie leckte mit der Zungenspitze über ihren kleinen Mund. »Bewußt nicht«, gab sie nach einer Weile zu. »Echt nicht. Aber komisch oder seltsam war es schon.«
»Was denn?«
»Ich kann es nicht so genau erklären«, sagte sie nach einem tiefen Atemzug. »Es war eben anders. Aber ich habe es auch nicht bewußt mitbekommen. Es sind mehr diese ungewöhnlichen Träume gewesen, die mich gequält haben.«
Wir schienen der Sache näherzukommen. »Träume? Können Sie sich daran erinnern?«
Fay hob die nackten Schultern an. »Nein, aber sie waren schlimm. Sie quälten mich. Ich fühlte mich immer als eine Gefangene. Etwas Dunkles kam auf mich zu. Ein Berg. Ein riesiger Schatten, der mich verschlingen wollte. Er war überall an diesem Ort, den ich ja nie verlassen habe. Ich befand mich immer in der Umgebung und habe schreckliche Dinge zu sehen bekommen. Tote Menschen, schreiende Menschen, die von dem Schatten verschluckt wurden.« Sie senkte den Kopf und mußte sich erst etwas erholen. »Aber es war mir nie möglich, etwas herauszufinden. Die andere Kraft war immer stärker als ich. Sie machte mit mir, was sie wollte. Ja, so ist es gewesen.«
»Können Sie diese Macht näher beschreiben?« erkundigte ich mich.
»Wie meinen Sie das?«
»Nun ja, sah sie nach etwas aus? Hatte sie eine bestimmte Gestalt? War sie groß, klein oder…«
»Nein, nein, nein!« Sie krallte die Hände in ihr Haar und merkte nicht, daß die Decke nach unten rutschte. »Ich kann Ihnen nichts sagen. Aber ich habe gelitten. Diese Kraft hat mich jedesmal überfallen und schreckliche Dinge mit mir angestellt. Das war so furchtbar, daß ich am liebsten nicht darüber reden möchte. Das können Sie vielleicht nicht verstehen, weil Sie es nicht mitgemacht haben, aber es ist so, Mr. Sinclair. So und nicht anders ist es gewesen.«
Ich ließ mir ihre Worte durch den Kopf gehen. Viel hatte ich nicht gehört, und
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