1115 - Die Tränen des Toten
es zur Seite stellte.
Shao hatte ihm gegenüber Platz genommen. Lächelnd fragte sie: »Geht es Ihnen besser?«
»Ja, schon.« Er drückte die Hände auf den Magen. »Aber die Angst ist noch nicht völlig weg.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Shao.
»Man sieht es Ihnen am Gesicht an.«
»Es war auch schlimm.«
»Wie heißen Sie eigentlich?«
Der Mann fühlte seinen Gedankenstrom unterbrochen. Er schüttelte den Kopf und fragte: »Bitte…?«
»Ihren Namen hätte ich gern gehört.«
»Ach so, ja. Ich heiße Kabito.«
»Sie sind Japaner.«
»Ja, natürlich. Obwohl ich…«, er schnaufte, »schon lange in London lebe. Aber seine Wurzeln vergißt der Mensch eben nicht.«
»Da sagen Sie was.«
»Ja, und jetzt bin ich hier.«
»Das sehe ich. Außerdem scheinen Sie mich zu kennen. Wobei Sie mir unbekannt sind. Ich denke, daß sich das ändern muß, denn Sie wollten ja etwas von mir.«
»Ich sehe in Ihnen eine letzte Hoffnung.«
»Warum?«
Kabito blickte Shao starr an. »Warum denn wohl? Es geht auch nicht unbedingt um Sie, sondern um die Person, die Sie ebenfalls sind. Sie verstehen mich doch?«
»Sprechen Sie von der Erbin?«
»Ja, davon rede ich. Sie sind die letzte in der Ahnenreihe der Sonnengöttin. Sie sind etwas Besonderes, denn Sie stehen auch unter dem Schutz der großen und großmütigen Amaterasu. Aber Sie sind nicht unsterblich, das wissen Sie ebenfalls. Auch die Sonnengöttin hat Feinde, die man nicht unterschätzen darf.«
Shao lächelte ihren Besucher entwappnend an. »Es ist alles recht nett, was Sie mir hier als Komplimente erzählen, aber bringt uns das in der Sache weiter?«
»Es gehört dazu.«
»Ja, das ist möglich. Mich würde interessieren, woher Sie das alles wissen. Nicht jeder Japaner ist über die Mythologie des eigenen Landes so gut informiert.«
»Da bilde ich schon eine Ausnahme.«
»Eben. Mich würde wirklich interessieren, wie Sie an diese Informationen herangekommen sind.«
»Es ist mein Beruf.«
»Gut. Und weiter?«
»Ich bin so etwas wie ein Bibliothekar. Ich arbeite Schriften auf. Ich muß Bibliotheken in Ordnung bringen. Ich muß sortieren, ich muß ordnen. Sie glauben gar nicht, was das für eine Arbeit ist. Nicht nur in der Heimat sind die Bücher vorhanden, auch in der Fremde. In der Botschaft, in den Konzernen, überall dort wo das Land der aufgehenden Sonne seine Spuren hinterlassen hat. Sogar mächtige Privatleute besitzen ihre eigene Bibliothek.«
»Bringt uns das weiter?« fragte Shao.
»Ja.«
»Dann höre ich gern und gespannt zu.«
Kabito dachte nach. Er runzelte dabei die Stirn. »Ich möchte auf die Privatleute zurückkommen. Sagt Ihnen der Name Tuma Agashi etwas?«
»Nein, kenne ich nicht.«
Besorgt schaute er Shao an. »Das sollten Sie aber, meine Liebe.«
»Warum?«
»Weil er viel Ähnlichkeit mit Ihnen aufweist. Wobei es nur einen Unterschied zwischen Ihnen gibt, abgesehen von einem geschlechtlichen. Tuma Agashi ist tot!«
»Bravo«, sagte Shao und lachte leise dazu. »Dann habe ich von ihm ja nichts zu befürchten, denke ich.«
Kabito wollte das nicht akzeptieren. »Nichts zu befürchten? Deshalb bin ich bei Ihnen. Ich will Sie warnen. Er ist wieder frei. Er ist zurückgekehrt, begreifen Sie das?«
»Noch nicht. Sprechen Sie von einem Zombie?«
Der Besucher wiegte den Kopf. »Ja, so kann man es sehen.«
»Und woher wissen Sie das?« erkundigte sich Shao. Sie hatte locker gesprochen und wollte sich ihre eigene Nervosität nicht anmerken lassen.
»Wie gesagt, ich bin Bibliothekar. Ich kenne viele Sagen und Legenden aus meinem Heimatland. Zwar nicht alle, aber die meisten. Ich bin deshalb auch über Ihr Schicksal informiert, Shao, obwohl Sie keine Japanerin sind. Doch ich weiß, wie es damals gelaufen ist und Sie auch als Chinesin in die Galerie der Ahnen hineinkamen.«
»Lassen Sie die alten Geschichten weg.«
»Das wollte ich auch. Ich möchte von meiner letzten Arbeitsstelle berichten.«
»Bei diesem Agashi?«
»Er ist ein sehr reicher Mann. Er nennt sich Händler. Oder Im- und Exporteur. Er handelt mit allem, was der Markt hergibt. Vornehmlich mit Elektronik und Autos. Durch ihn läuft viel. Seine Beziehungen sind weltweit. Er wird als Verkaufsgenie eingeschätzt, besitzt in vielen Ländern verteilt mehrere Häuser, und unter anderem auch eines hier in London. Dort befand sich mein Arbeitsplatz. Ich muß bewundernd zugeben, daß seine Bibliothek wirklich außergewöhnlich gut bestückt ist. Ich habe mich über die Arbeit
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