1115 - Die Tränen des Toten
Die litten, die in die Zukunft schauten und unter den Dingen, die sie sahen, oftmals verzweifelten.
Zu diesen Menschen gehörte Shao nicht. Aber auch sie war etwas Besonderes, und das betraf vor allen Dingen ihre Vergangenheit. Sie war die letzte Person in der Ahnenreihe der Sonnengöttin Amaterasu. Für sie mußte sie gegen finstere Mächte kämpfen, allerdings nicht als Shao, sondern als Phantom mit Armbrust und Halbmast. Dann gestärkt durch die Sonnengöttin, die selbst nicht eingreifen konnte, weil sie eine Gefangene war.
Shao hatte schon einige Kämpfe bestanden. Wenn sie in dieser Verkleidung auftrat, dann war es schwer, sie zu besiegen. Das hatten manche Gegner erfahren müssen. Auf der anderen Seite gab es genügend Feinde, die sich ihren Tod wünschten und es immer wieder versuchten, an sie heranzukommen.
Sie wußte selbst nicht, weshalb ihr die zweite Existenz so plötzlich in den Sinn gekommen war.
Einen nachvollziehbaren Grund gab es dafür nicht, es sei denn, Sukos ungewöhnliches Verschwinden hätte sie darauf gebracht.
Shao stand auf. Unruhig lief sie durch das Zimmer. Sie sah die Möbel, den Computer, die beiden Fenster, und sie stellte fest, daß sich nichts im Vergleich zum letzten oder vorletzten Tag verändert hatte. Bis eben auf ihre Unruhe. Auch wenn sie logisch darüber nachdachte, bekam sie das Gefühl nicht in den Griff. Es rann immer etwas von ihr weg und war auch nicht so leicht zurückzuholen. Da bewegten sich die Gedanken wie schnell fließendes Wasser, ohne eingeholt und auf den Punkt gebracht werden zu können.
Braute sich tatsächlich etwas zusammen?
Neu wäre es für sie nicht gewesen, denn Suko und sie standen auf der Todesliste der schwarzmagischen Feinde ganz weit oben.
Eigentlich hatte sich Shao mit einer Bekannten verabredet, die sie aus dem damaligen Computerkurs her kannte. Die Frau hatte Probleme, und Shao hatte ihr Hilfe angeboten.
Die entfernt wohnende Freundin würde erst am Nachmittag erscheinen. Es war noch Zeit genug, ihr abzusagen. Shao fühlte sich einfach nicht in der Lage, tiefgründige Gespräche über Computerprogramme zu führen.
Linda war noch zu Hause. Sie zeigte sich enttäuscht, als Shao absagte.
»Es tut mir leid, aber ich fühlte mich nicht in der Lage. Ich habe Kopfschmerzen und denke sogar, daß ich leichtes Fieber bekomme.«
»Na ja, dann hat es keinen Sinn. Machen wir denn einen neuen Termin?«
»Ich rufe dich an.«
»Gut. Belassen wir es dabei.«
Shao war froh, dieses Problem aus der Welt geschafft zu haben. Noch immer von dieser unerklärlichen Unruhe getrieben, ging sie zum Fenster und blickte hinaus.
Der Himmel über London zeigte sich nicht sommerlich. Er war wolkenverhangen, und trotzdem war es warm. Beinahe schon schwül.
Sie ging vom Fenster weg und nahm ihren Rundgang durch das Zimmer wieder auf. Den Kopf hielt sie gesenkt. Da sie die dunklen Haare nicht hochgesteckt hatte, falteten sie sich auseinander. Einige Strähnen wehten wie ein Vorhang vor ihren Augen.
Neben dem Tisch blieb sie stehen. In der Tasse schimmerte noch ein Teerest. Sie trank ihn, auch wenn er kalt war. Der Blick zur Uhr. Sie wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, seit sie mit John gesprochen hatte, aber sie nahm sich vor, nur noch eine halbe Stunde zu warten und dann anzurufen.
Sie wollte in die Küche und dort die Teetasse abstellen, da meldete sich das Telefon. Shao schloß für einen Moment die Augen und konzentrierte sich auf das innerliche Zittern.
Beim vierten Klingeln hob sie ab.
»Ha, ich dachte schon, Sie wären nicht da, Shao.«
Es war der Hausmeister.
»Was gibt es denn?«
»Bei mir ist jemand, der unbedingt mit Ihnen sprechen will. Und er ist verdammt aufgeregt. Er wollte zum Fahrstuhl laufen, aber ich habe ihn stoppen können.«
»Wie heißt der Mann?«
»Er wollte mir seinen Namen nicht nennen.«
»Und er will nur mit mir reden?«
»Das hat er gesagt.«
»Wie sieht er aus?«
»Er ist kein Europäer. Japan oder China, meine ich. Vielleicht auch Tibet. So genau kenne ich mich damit nicht aus, Shao. Er scheint aber Probleme zu haben. Soll ich ihn hochschicken oder wollen Sie zu mir nach unten kommen?«
»Nein, nein, lassen Sie mal. Sie können den Mann hochschicken.«
»Auf Ihre Verantwortung, Shao.«
»Alles klar.«
Shao war schon leicht überrascht, daß sie jemand sprechen wollte, ohne seinen Namen zu nennen.
Das konnte natürlich verschiedene Gründe haben, die man nicht unbedingt negativ sehen mußte.
Vor dem Spiegel
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