1115 - Die Tränen des Toten
ja, woher sie stammte, und sie hatte sich damit abgefunden, hin und wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontiert zu werden. An ihre richtigen Eltern verschwendete sie nur wenige Gedanken. Ihr Vater, ein Beerdigungsunternehmer, war ein Diener des Gelben Satans gewesen und praktisch durch ihn auch indirekt umgekommen. Suko hatte ihn ebenfalls noch kennengelernt, bevor Shao und er Hongkong verlassen hatten, um nach London zu gehen. Das war eben die eine normale und menschliche Seite.
Es gab auch die zweite.
Eben die Sonnengöttin, in deren Erbfolge Shao als letztes Glied der Kette stand. Ihr Einfluß war stark. Er würde wohl auch immer bleiben, so lange Amaterasu im Dunklen Reich gefangenblieb.
Von dort konnte sie noch agieren und auch Kontakt mit ihrer Stellvertreterin aufnehmen. Und sie konnte Shao schützen, sie verwandeln, ihr Kräfte geben, wenn sie zum Phantom mit der Maske wurde.
Kabitos Stimme begleitete sie auf dem Weg zur Küche. »Ich habe Angst, Shao. Eine verdammte Angst. Denn für die andere Seite bin ich jetzt ein Verräter. Mein Tod ist schon eine beschlossene Sache.«
»Das ist er seit der Geburt«, erklärte Shao.
»Ja - schon, aber so habe ich das nicht gemeint. Sie wissen, wie ich es meinte.«
»Klar.« Die Chinesin lächelte ihm trotz allem aufmunternd zu. Sie sah die Dinge nicht so eng. Außerdem kam ihr die Warnung der Sonnengöttin wieder in den Sinn. Shao wußte jetzt, daß sie achtgab und - wenn nötig - auch indirekt eingriff.
Kabito hatte Shao noch etwas zu sagen. Da er sie nicht mehr sah, rief er mit lauter Stimme: »Für die Toten sind die irdischen Gesetze aufgehoben, verstehen Sie?«
Shao hatte die Küchentür nicht geschlossen. »Wie meinen Sie das?« rief sie laut zurück.
»Nun ja, die schaffen Dinge, die wir uns nicht vorstellen können, denke ich. Die können alles.«
»Ist das nicht etwas übertrieben?«
»Das glaube ich nicht. Nein, nein. Ich bin überzeugt, daß sie uns in allen Dingen überlegen sind. Der Dunkle Schrecken hat wieder zu seinem Herrn zurückgefunden. Das wird uns noch schwer zu schaffen machen, glauben Sie mir.«
»Okay, ich werde mich danach richten.« Shao hatte die Kühlschranktür geöffnet und eine Flasche Mineralwasser herausgenommen. Sie hätte mit ihr und zwei Gläsern wieder zurückkehren können, so wäre der Besuch der Küche nur eine Sache von wenigen Sekunden gewesen, doch das tat sie nicht. Sie blieb zunächst einmal stehen und schaute gegen die Fensterscheibe, ohne sie richtig wahrzunehmen.
Shao gehörte zu denjenigen Personen, die eine Sachlage realistisch sahen. Kabito störte sie. So wertvoll seine Informationen auch gewesen waren. Sie brauchte freie Bahn, und der Japaner mußte in Sicherheit gebracht werden.
Es ärgerte sie, daß von Beginn an die andere Seite ein so großes Geheimnis um den Fall gemacht hatte. Selbst John Sinclair war nicht eingeweiht worden.
Dafür Suko.
Genau an ihn dachte sie. Er ahnte nicht, daß auch sie in den Fall verwickelt war, und das wollte sie so rasch wie möglich ändern. Auch deshalb war sie in die Küche gegangen, um hier, ungestört von ihrem Besucher, telefonieren zu können.
Der Apparat lag auf der Station. Sie hob ihn an, stellte die Verbindung her und tippte die Zahlenfolge ein…
***
Glenda und ich waren stumm geblieben und hatten Suko seinen Bericht zu Ende führen lassen. Es war in der Tat ein Hammer gewesen, und wir mußten jetzt davon ausgehen, es mit zwei lebenden Toten zu tun zu haben. Zum einen mit Tuma Agashi und zum anderen mit einem perfekten Bogenschützen, wahrscheinlich mit Samurai-Ausbildung.
»Ich konnte nichts tun«, sagte Suko. »Ich habe sie ziehen lassen müssen. Die Kollegen habe ich bewußt nicht angerufen. So liegen in Agashis Mausoleum zwei Leichen statt einer. Ich weiß nicht, warum sie sterben mußten, schließlich gehörten sie zu Agashi, aber sie sind tot, das ist nicht mehr zu ändern. Möglicherweise haben sie auch verhindern sollen, daß ihr Chef als Untoter sein eigenes Grabmal verläßt. So sieht die Lage aus.«
»Und du hast es nicht verhindern können?« erkundigte ich mich etwas skeptisch.
»Nein, John, das habe ich nicht probiert. Dieser Bogenschütze ist wahnsinnig schnell. Er muß in eine perfekte Schule gegangen sein. Zudem hatte er mich überrascht oder auf dem falschen Fuß erwischt. Das kannst du dir aussuchen. Er schießt schneller als man schauen kann. Der ist wirklich perfekt.«
»Schneller als Shao?« fragte Glenda.
»Immer!«
Wir
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