1115 - Die Tränen des Toten
erste Anzeichen einer Panik, die schlagartig über ihn gekommen war. Er bewegte seinen Kopf wie eine Puppe, die von einem Band gezogen wurde.
»Tun Sie was!«
»Nein, wir müssen warten.«
»Verdammt, da gibt es doch den Alarmknopf.« Er wollte auf ihn zuspringen, aber Shao war schneller und hielt ihn mit einer lässigen Bewegung am Arm fest. Ebenso lässig schleuderte sie den Mann wieder zurück. Er prallte gegen die Wand und drückte sich dort zusammen, wobei er seine Schultern hochzog. »Das verstehe ich nicht…«
»Es ist auch nicht normal«, sagte Shao. »Verstehen Sie jetzt? Ich glaube nicht an einen Zufall. Da steckt eine andere Macht dahinter. Es ist kein technisches Versagen.«
Diese Worte hatten den Japaner so geschockt, daß er zunächst nichts sagen konnte. Dafür steigerte sich seine Angst. Er fiel zusammen und blieb in der Hocke. Den Kopf nach hinten gebogen und den Blick gegen das Dach der Kabine gerichtet.
Shao blieb ruhig. Sie wußte, daß sie erst den Anfang des tödlichen Spiels erlebten, aber sie wollte vorbereitet sein. Die Armbrust ließ sie von ihrer Schulter rutschen und hielt sie mit der rechten Hand fest. Obwohl die Waffe schwer war, schien sie für Shao kein Gewicht zu haben.
Das Jammern des Japaners hatte aufgehört. Er schaute jetzt nach vorn, wie jemand, der eine Tür so hypnotisieren will, daß sie sich endlich dank seiner Kräfte öffnet.
Das war nicht möglich. Sie blieb geschlossen, und sie hingen wirklich zwischen den Etagen fest.
»Hier kommen wir nicht raus!« flüsterte Kabito. »Ich hätte nie gedacht, daß eine Fahrstuhlkabine mal mein Grab werden würde. Wäre ich doch in Osaka geblieben…«
Shao achtete nicht auf ihn. Sie wartete auf ein Zeichen von der anderen Seite. Ihr fielen Amaterasus Worte wieder ein. Sie hatte von der mörderischen Gefahr gesprochen und auch von Kräften, die Agashi und der Dunkle Schrecken aus der Hölle mitgebracht hatten.
Noch waren sie nicht zu sehen. Es mußte auch nicht sein, um zu wissen, daß sie da waren.
Irgendwo. Oben, unten. Vielleicht auch im Gang.
»Sollen wir nicht doch den Alarmknopf drücken?« fragte Kabito jammernd. »Dann hört uns wenigstens der Hausmeister.«
»Das lassen wir bleiben.«
»Warum denn?«
»Weil sie da sind.«
Kabito erstarrte für einen Moment in seiner Furcht. »Da sind?« hauchte er, »Wo denn?«
Shao wies in die Höhe. Sie hatte über ihren Köpfen ein Geräusch gehört. Nur einen kurzen Aufprall, ein leises Echo, nicht mehr. Doch sie war sicher, daß nicht irgend jemand etwas von weiter oben her auf das Dach geworfen hatte.
Kabito wurde plötzlich ruhig. Wie ein in die Enge getriebenes Tier hockte er in der Kabinenecke, den Blick schräg nach oben gerichtet. So wartete er, was geschehen würde.
Es passierte nichts.
Stille breitete sich aus.
Die Luft in der Kabine hatte sich noch mehr verschlechtert. Shao glaubte, daß sie nach Schweiß und Angst roch, produziert von Kabito.
Noch immer war nichts zu sehen. Eigentlich hätte es keiner so leicht gehabt, durch das Kabinendach nach unten zu steigen, denn es war recht stabil. Eine Klappe war auch vorhanden. Sie allerdings schloß fugendicht ab.
Etwas zischte über ihren Köpfen. Wie Säure, die dabei war, ein Metall anzugreifen.
Kabito jammerte wieder. »Da sind sie. Verdammt noch mal, jetzt kommen sie!«
Diesmal enthielt sich Shao einer Antwort, weil sie wußte, daß Kabito recht hatte.
Sie kamen tatsächlich.
Und sie setzten ihren paranormalen Kräfte ein. Sie bewiesen, wie stark sie waren, denn über den Köpfen dampfte die Decke der Kabine einfach weg.
Ein helles Licht entstand. Als wäre über dem Dach eine Sonne aufgegangen. Aber das Licht war falsch. Es war kalt, es war widerlich und abstoßend, und es war plötzlich von einer Nebelwolke bedeckt. Grauer Nebel, der sich wie eine endlose Schlange in die Höhe zog, um die Verbindung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits herzustellen.
Es gab jetzt kein Dach mehr. Oder es wurde nicht als Hindernis angesehen, die Kräfte ihrer Feinde waren ungemein stark, wie schon die Sonnengöttin gewarnt hatte.
Etwas schob sich von oben nach unten in die langgestreckte Nebelwolke hinein. Es war nicht zu erkennen, wer sich ihnen da näherte, aber Shao war kampfbereit.
Längst hatte sie einen Pfeil aus dem Köcher geholt und ihn auf die Armbrust gelegt. Sie war gespannt. Jeden Augenblick wartete sie auf das Erscheinen des Ziels, um abdrücken zu können.
Jemand schwebte nach unten.
Er wurde
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