1115 - Die Tränen des Toten
größer, und seine Umrisse bildeten sich klarer hervor. Er besaß die Gestalt eines Menschen, doch dieser Ausdruck stimmte nicht mehr so ganz.
»O nein, es ist Agashi - Agashi!« rief Kabito und schlug die Hände vors Gesicht…
***
Der lebende Tote schwebte aus dem Nebelstreifen hervor nach unten. Er bewegte sich dabei nicht.
Er glitt in die Kabine hinein wie eine starre Puppe. Zu beiden Seiten hingen die Arme herab wie am Körper festgeklebt. Bekleidet war er mit dem Gewand eines Mönches, das gelblich schimmerte.
Aber für ihn war es mehr ein Totenhemd. Es war so um seinen Körper geschlungen worden, daß die rechte Schulter dabei freiblieb.
Hinter ihm blieb der Nebel. Er mußte den gesamten Fahrstuhlschacht ausfüllen und war dabei so dick, daß er alles verbarg. Shao und Kabito konnten nicht erkennen, ob sich darin etwas versteckte.
Das war im Moment auch nicht wichtig, denn Agashi schwebte tiefer. Erst jetzt, wo er recht nahe war, fielen auch die Veränderungen bei ihm auf. Die roten Streifen, die sein Gesicht zeichneten und bestimmt nicht aus Farbe bestanden. Sie sahen aus wie Blut, das sogar über seinen Hals hinweg und in seine Kleidung gesickert war.
Kabito wollte ihn nicht sehen. Noch immer hatte er die Hände vors Gesicht geschlagen, doch er betrog sich selbst, weil er die Finger gespreizt hatte, um so durch die Lücken schauen zu können.
Shao sah noch keinen Grund, sich zu verteidigen. Bisher hatte ihr der ungewöhnliche Zombie nichts getan, und auch der Dunkle Schrecken hielt sich zurück.
Tuma Agashi berührte den Boden. Da seine Beine dicht beisammen standen, kam er mit beiden Füßen zugleich auf. Auf seinem Gesicht gab die Haut zwischen den Blutstreifen einen wächsernen Schimmer ab. Der Mund war zusammengekniffen. Das Kinn bildete eine weiche Rundung.
Shao konzentrierte sich auf die Augen. In ihnen schwamm eine dicke Flüssigkeit, die leicht und lautlos schwappte, wenn sich die Gestalt bewegte.
Die Flüssigkeit trat nicht hervor, sie blieb darin, als wäre sie ein Elixier des Lebens, das die Macht der Unterwelt dieser Gestalt gegeben hatte. Shao wußte auch nicht, ob der lebende Tote blind war oder sie genau betrachten konnte. Er hatte nichts gesagt, er hatte keine Erklärung abgegeben. Trotzdem war zu merken, daß er nicht in freundlicher Absicht gekommen war. Ihn umgab die Aura des Todes, die sich wie eine feuchte Kälte ausgebreitet hatte.
Shao brach das Schweigen. Sie wollte herausfinden, ob diese Gestalt reden konnte.
»Du lebst?« fragte sie leise.
Agashi hatte sie verstanden, denn er nickte.
»Kannst du auch reden?«
»Ja.«
»Dann sag uns, was du hier willst und wie du es geschafft hast, den Tod zu überwinden!«
»Ich bin nicht tot.«
»Doch!« widersprach Shao. »Du hast selbst gesagt…«
»Ich habe mich nur zurückgezogen. Ich bin in der anderen Welt gewesen, um meiner langen Ahnenreihe gerecht zu werden. Ich habe mir das Drachenblut geben lassen. Das Blut der Unbesiegbarkeit, wie es in alten Büchern geschrieben steht. Es ist das Blut des Emma-Hoo, des Teufels, des Drachens, der Schlange. Denn er ist alles in einer Person. Dafür habe ich ihm mein Blut überlassen. Für die Welt bin ich gestorben, aber für die Hölle lebe ich, um ihr und ihnen dienen zu können, so wie der Dunkle Schrecken mir dient, der auch schon meine Vorfahren begleitet hat.«
Shao hatte genau zugehört. Deshalb war ihr auch etwas aufgefallen. »Du willst ihnen dienen? Wer sind sie?«
Agashi breitete die Arme aus. »Es sind all die Götter, die ihre Reiche bewachen. Die dich hassen, denn sie stehen nicht auf der Seite der Sonnengöttin. Die sie gern vernichtet sehen, um sich endlich frei bewegen zu können.«
»Amaterasu wird nicht vernichtet werden!«
»Doch, durch uns.«
»Dafür stehe ich.«
»Du hast keine Möglichkeit mehr. Du bist zu schwach. Amaterasu kann dich nicht so beschützen, wie sie es gern hätte. Das weiß ich. Wir werden unsere Waffen wieder an uns nehmen, denn wir holen uns auch die Krone der Ninja. Es hat lange gedauert, bis ich den Weg fand. Ich mußte mir erst auf dieser Welt ein Imperium aufbauen und Macht erlangen, um später die Demut vor den großen Mächten kennenzulernen. Wir holen uns das zurück, das uns zusteht, und es gibt keinen, der uns daran hindern wird. Auch du nicht.«
Shao nickte ihm steif zu. »Gut, ich bin einverstanden. Ihr könnt mich holen, aber laß ihn in Ruhe. Kabito hat euch nichts getan. Laß ihn gehen.«
»Nein!«
»Er hat euch
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