1115 - Die Tränen des Toten
Shao mächtiger gefühlt. Durch das Spiegeltor war etwas anderes in sie hineingeströmt, das eigentlich nur den alten Götter vorbehalten war. Nun steckte es in ihr und hatte sie stark gemacht.
»Ja«, sprach sie gegen die leere Spiegelfläche. »Ich werde dich nicht enttäuschen, Amaterasu! Ich werde den Kampf gegen das Unheil aus der Vergangenheit aufnehmen.«
Sie drehte sich um und griff nach ihrer Kleidung. Dünnes Leder mußte sie wie eine zweite Haut überstreifen. Der gesamte Körper wurde damit bedeckt, und sie zog zuletzt die Halbmaske über, die ihre Stirn, die Nase und praktisch damit die Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Nur der Mund und das Kinn lagen frei.
Danach griff Shao zum Köcher. Darin steckten zahlreiche Pfeile, mindestens zwölf. Sie hängte ihn über den Rücken. Die Armbrust wurde von ihr ebenfalls hochgenommen. Sie schaute lächelnd auf sie nieder.
Shao hatte sich früher nie um den Umgang mit einer Armbrust gekümmert. Das sah jetzt anders aus.
Seit sie das Phantom mit der Maske war und für die Sonnengöttin kämpfte, beherrschte sie auch diese Waffe, ohne zuvor damit geübt zu haben. Diese Macht war ihr einfach gegeben worden.
Diesmal ging es gegen einen besonderen Gegner. Der Dunkle Schatten hatte seinen Namen nicht grundlos erhalten, und auch nicht grundlos hatte Amaterasu Shao gewarnt. Er war schnell, unheimlich schnell, mehr Phantom als sie, und er hatte noch nie vorbeigeschossen, wie es hieß.
Shao wollte sich nicht selbst unter Druck setzen. Sie warf noch einen letzten Blick in den Spiegel, der wieder völlig normal aussah und auch so bleiben würde.
Danach ging sie zurück zu Kabito.
***
Sir James persönlich hatte dafür gesorgt, daß Suko so schnell wie möglich in die Bereiche des Yard-Gebäudes geführt wurde, die den normalen Mitarbeitern verschlossen blieben.
Es war kein Archiv. Wenn man es allerdings so sehen wollte, dann war es ein besonderer Raum tief unter der Erde. Ein Gewölbe aus Tresoren bestehend, die unterschiedlich groß waren. In einige konnte man hineingehen, andere wiederum sahen sehr normal aus.
Sir James war an Sukos Seite geblieben. Zusammen mit einem Beamten, der hier unten Dienst tat, durchwanderten sie den kalten Betonkeller, der den Charme eines Kühlschranks aufwies.
Sir James war noch immer nicht überzeugt und fragte deshalb mit leiser Stimme: »Muß es wirklich die Krone der Ninja sein, Suko?«
»Ja.«
»Halten Sie die Feinde für so schlimm?«
»Schlimm, grausam und mächtig, Sir.«
Der Superintendent nickte. »Okay«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich vertraue Ihnen. Ich habe nur Angst davor, daß es der anderen Seite gelingt, Ihnen die Krone zu entwenden.«
»Davor bin selbst ich nicht gefeit.« Suko hatte eine ehrliche Antwort gegeben. Er wollte sich auch nicht überschätzen. Er wußte selbst, daß er nur ein Mensch mit allen Fehlern und auch Stärken war.
Locker gesagt war die Krone der Ninja im hintersten Winkel dieses riesigen Tresors aufbewahrt worden. Suko und Sir James mußten noch zwei Gittertüren passieren, um endlich vor dem Tresor zu stehen, in dem sich der Gegenstand befand.
Durch einen kompliziert eingesetzten Zahlenmechanismus ließ sich die Tür öffnen. Der Tresor war in zwei Fächer unterteilt worden. Im mittleren lag die Krone der Ninja verborgen. Das Fach war durch einen Code gesichert, den ihr Begleiter auch erst entschlüsseln mußte. Dann konnte die Lade aufgezogen werden.
Der Kollege, der sie hergebracht hatte, zog sich wieder zurück. Er blieb außer Sichtweite, als Suko in die jetzt offene Lade hineinschaute. Tief atmete er ein. Seit langer Zeit stand er mal wieder vor dem Erbe eines toten Freundes.
Sie lag nicht allein dort, denn neben ihr hatten die heilenden Handschuhe eines alten Shaolin-Kämpfers ihren Platz gefunden. Sie nahm Suko als erste an sich und streichelte dabei sanft über das weiche Leder hinweg.
Sir James stand neben ihm und schaute ihm zu.
Die Handschuhe hatte Suko eingesteckt. Jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Krone der Ninja, die im Prinzip wenig imponierend aussah. Sie bestand aus Eisen. Von einem Rand her liefen nach innen gebogene Stützen zusammen, die sich in der abgerundeten Spitze zu einem kleinen Kreis vereinigten. Mehr war an dieser Krone nicht zu sehen. Es gab keinen auffälligen Schmuck. Weder Gold noch Juwelen zierten sie. Sie bestach allein durch ihre graue Schlichtheit.
Suko streckte ihr beide Hände entgegen und berührte sie wie einen kostbaren
Weitere Kostenlose Bücher