1116 - Der Hexenkelch
in seinem Sessel, beide Hände gegen die Wangen gepreßt.
Es war nur zu sehen, wie die Frau ihren linken Arm bewegte. Den rechten hielt sie ruhig, aber sie hatte den Rand des Kelchs gegen den Körper des Gefesselten gepreßt, und wahrscheinlich rann noch mehr Blut aus neuen Wunden hervor.
Es dauerte nicht lange, dann war sie fertig. Sie drehte sich um, und der Kelch geriet dabei wieder vor das Auge der Kamera. Es hatte sich jetzt mehr Blut darin gesammelt. Die Frau betrachtete zuerst die kurze Klinge, leckte von ihr Tropfen ab, bevor sie einen Blick auf den Glaskelch warf.
»Und jetzt schauen Sie genau hin, Sinclair.«
»Ist schon okay.«
Die Frau hob den Kelch an, führte in an ihre Lippen und kippte ihn. Das träge Blut geriet in Bewegung. Es rann dem Mund entgegen und wurde von der Person getrunken und auch zur gleichen Zeit geleckt.
Sie hielt die Augen geschlossen. Sie genoß es, das menschliche Blut zu trinken, aber sie leerte den Kelch nicht bis zur Neige. Bevor sie ging, warf sie dem Gefangenen noch einen Blick zu.
Justin Corner war in seinen Ketten zusammengesackt. Er hing dort, als sollten ihm die Arme von den Schultern gerissen werden. Die Wunde auf seiner Brust hatte sich vergrößert, und die Streifen waren länger geworden.
Die Frau drehte sich um.
Sie hätte jetzt von vorn in die Kamera schauen müssen, doch das Bild sahen wir nicht mehr.
Wir hatten das Ende des Films erreicht.
Alan Friedman schaltete den Recorder ab und stöhnte laut auf. »Jetzt haben Sie alles gesehen, Mr. Sinclair.«
»In der Tat. Es war beeindruckend.«
»Mehr sagen Sie nicht?«
»Was wollen Sie hören?«
»Das wissen Sie doch selbst. Sie sind doch Polizist und Geisterjäger. Sie haben bestimmt Fragen. Zum Beispiel, ob dieser Film echt ist?«
»Okay. Ist er echt?«
»Ja, das war kein Schauspiel. Da hat kein Regisseur seine Anweisungen gegeben. Er ist echt.«
»Gut, akzeptiert. Es folgt die nächste Frage. Wer hat ihn gedreht?«
Alan Friedman sprach seine Antwort gegen die Decke.
»Ich habe dieses Video aufgenommen, Mr. Sinclair…«
***
Damit hatte ich nicht gerechnet. Oder doch? Ich war mir nicht schlüssig, aber es war schon eine kleine Überraschung für mich gewesen. Friedman hatte irgendwo im Hintergrund gelauert, hatte alles mitbekommen und hatte nicht eingegriffen.
»Warum schweigen Sie, Sinclair?« flüsterte er. Der Mann schien unter seiner eigenen Tat zu leiden.
»Ich möchte nachdenken.«
»Gut. Sie stellen sich zahlreiche Fragen. Eine davon lautet sicherlich, weshalb ich nicht eingegriffen habe?«
»Das kann ich nicht leugnen.«
»Ich will es Ihnen sagen, Mr. Sinclair. Ich habe mich nicht getraut. Ich konnte es nicht. Ich hockte in meinem Versteck und habe einfach nur gefilmt.«
»Sind Sie gesehen worden?«
»Nein.«
»Sie haben auch nicht versucht, Ihren Freund zu befreien?«
Er schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich denn? Es ist gefährlich, in die Höhle zu gehen. Außerdem hatte ich nicht das richtige Werkzeug, um die Ketten zu lösen.«
»Das muß man akzeptieren.«
»Statt dessen habe ich mich an Sie gewandt.«
»Weil die Person Blut getrunken hat. Menschliches Blut. Und damit haben Sie gedacht, daß sie zu einem Vampir geworden ist oder es schon immer war. Ist das die Richtung, in die Sie gedacht haben?«
Er konnte lächeln, aber es sah verzerrt aus. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Sinclair, nein. Nicht, was Sie denken. Das ist kein Vampir, auch wenn es so aussieht. Sie ist das nicht. Sie ist etwas ganz anderes. Sie will das Blut aus bestimmten Gründen trinken, und es ist ihr auch egal, ob es von einem Mann oder von einer Frau stammt. Blut ist Blut. Das braucht sie.«
Ich nickte und sagte: »Reden Sie weiter, Mr. Friedman.«
»Dieses Blut erhält sie am Leben. Sie altert nicht, sie erhält neue Kräfte. Sie wird einfach nicht sterben oder untergehen. Noch einmal, Mr. Sinclair, dabei spielt es keine Rolle, wessen Blut sie trinkt, wirklich nicht.«
»Also doch ein weiblicher Vampir«, sagte ich.
»Nein.«
»So ähnlich?«
Er schloß für einen Moment die Augen. »Wenn ich Ihnen jetzt sage, daß dieses Blut zweitrangig ist, würden Sie mir das glauben?«
»Es kommt auf die Erklärung an.«
»Gut, die bekommen Sie. Deshalb habe ich Sie auch eingeladen.« Er lachte über seine eigenen Worte. »Erinnern Sie sich daran, daß es zwar um das Blut geht, aber nicht ausschließlich. Etwas anderes ist viel wichtiger in diesem Fall. Sie hat zum einen ein Messer in der Hand
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