112 - Der tägliche Wahnsinn
ich bei einer günstigen Gelegenheit ein paar Tropfen Minzöl auf seinen Rücken und seine Hose. Das Öl habe ich immer in der Jackentasche dabei, weil es derart penetrante Gerüche zumindest etwas überdeckt. Schließlich versuchte ich den Patienten immer wieder davon zu überzeugen, doch in die Nierenschale und nicht daneben zu spucken. Zu etwa 50 Prozent gelang ihm das trotz meiner Hilfe nicht. So verbrauchte ich jede Menge Zellstofftücher, um ihm wenigstens die größten Verunreinigungen vom unrasierten Kinn und der Brust zu wischen. Immer wieder durchquerte Erbrochenes unkontrolliert seine kariösen Zähne. Kurz vor dem Eintreffen im Krankenhaus wollte er in einem unbeobachteten Moment die halbvolle Nierenschale auf dem Fahrzeugboden abstellen – was misslang: Die Schüssel war wieder leer. Bingo! Eine halbe Stunde Putzen konnte ich mit Sicherheit für das Fahrzeug einplanen.
In der Klinik musste ich erst einmal erklären, warum ich ihn an der Pforte für die Intensivstation angemeldet hatte. «Was soll der Mann hier?», fragte mich die Ärztin. «So viel Blut hat er doch gar nicht erbrochen, dass es bedrohlich sein könnte.» Natürlich wusste sie: Dieser Patient musste entkleidet und gewaschen, das Bett womöglich im Lauf des Abends mehrfach neu bezogen werden, und wenn man Pech hatte, fing der Mann zu randalieren an, wenn er etwas «aufklarte». Eine Spezies wie ihn hatte keiner gern auf der Station …
Der Ärztin gab ich den Tipp, nicht nach der verlorenen Blutmenge, sondern nach dem konsumierten Alkohol und der dazu eingenommenen Menge verschiedenster Medikamente zu fragen. «Der Patient kann einiges geschluckt haben. Da lagen mehrere leere Tablettenblister in der Gegend rum, Paracetamol und Diazepam zum Beispiel. Mir konnte er nicht sagen, ob er die alle heute genommen hat. Seine Schwester, die mit ihm zusammenwohnt, wusste über den Tablettenkonsum auch nicht weiter Bescheid. Aber nach ihren Aussagen hat ihr Bruder an diesem Tag schon mindestens eine Flasche Korn und drei Liter Glühwein getrunken.» Aus dieser Perspektive betrachtet befand auch sie, dass der Patient unter Beobachtung bleiben sollte. Sie unterschrieb unseren Transportschein und übernahm den Mann, der auf der Trage vor sich hin döste und in den wacheren Momenten nach Beruhigungsmitteln bettelte.
Solche Einsätze sind jedes Mal gruselig. Man kann sehen, was Alkohol und Medikamente aus einem jungen Menschen machen. Der Typ war mit seinen dreiundzwanzig Jahren schon so gut wie fertig. Selbst wenn die Leber die kommenden Jahre aushielt, würde er sich das Hirn matschig saufen.
Alkohol ist eben keine Lösung, sondern nur ein Destillat.
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Kapitel 3 Tod in der Badewanne
Es war später Abend. Gerade hatte ich meinen Kontrollrundgang durch die Wache beendet. Alles war in Ordnung. Die Lichter waren ausgeschaltet, die Außentüren verschlossen. Die Nachtruhe konnte beginnen.
Doch plötzlich ging das Alarmlicht an. Die Neonröhren klimperten im ganzen Haus und aus den Alarmlautsprechern, die in jedem Raum der Wache angebracht waren, klang die Stimme einer Person aus der Leitstelle, die uns einen Wohnungsbrand meldete. Hatten sich zu dieser Zeit schon einige Kollegen in die Ruheräume zurückgezogen, kam jetzt wieder Leben in die Wache. Die Mannschaft lief zum Löschfahrzeug und schlüpfte schnell in die Brandschutzüberhosen. Noch den Mantel angezogen und ins Fahrzeug gesprungen, da startete der Maschinist bereits den Motor. Ich bildete in dieser Schicht mit Dieter den Angriffstrupp, also das Team, das das Feuer bekämpfen soll.
«In der Wohnung soll noch jemand sein, die Anruferin hatte bei ihm angeklingelt. Der Bewohner hatte aufgemacht, aber sich geweigert, sein Zuhause zu verlassen. Angeblich hat er gesagt, er würde die Sache alleine regeln können», so die weitere Info der Leitstelle über Funk
. «
In der Wohnung war laut der Anruferin aber schon alles verraucht.»
Na super, dachte ich. Hoffentlich hatte der Bewohner recht behalten mit seiner Behauptung, die Angelegenheit selbst regeln zu können. Ansonsten gibt es eine Menschenrettung!
Von der Nachbarwache, erfuhren wir, würde weitere Unterstützung eintreffen, auch eine Drehleiter. Aber erst nach uns, die ersten Minuten müssten wir mit unserer kleinen Mannschaft klarkommen.
Dieter und ich streiften uns die Atemschutzgeräte auf, die sich in den Sitzlehnen der Kabine befanden, das schwere Löschfahrzeug rollte aus der Halle. Uns gegenüber saßen zwei
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