1129 - Das Blutmesser
Hauch. Ich wollte mich drehe, doch dazu ließ man mich nicht kommen.
Plötzlich spürte ich die Kälte an der Kehle. Das war eine andere, denn sie stammte vom Metall des Blutmessers…
***
Es war alles so schnell passiert, daß weder Michelle noch ich etwas hatten dagegen unternehmen können. Schlagartig hatte sich die Lage verändert. Bisher hatten wir sie unter Kontrolle gehabt, das war nun vorbei, denn Alain war zurückgekehrt. In seiner kaum erklärbaren Gestalt. Feinstofflich und gefährlich und natürlich mit seinem verdammten Messer bewaffnet.
Ich spürte ihn, und ich spürte ihn trotzdem nicht wie einen normalen Menschen. Er stand hinter mir. Er hielt mich umschlungen wie ein Geiselnehmer sein Opfer, aber dieses Blutmesser war keinesfalls feinstofflich. Der harte Stahl berührte die Haut an meinem Hals und würde auch um keinen Millimeter weichen.
»Er wird dir nichts mehr erklären, Schwester, gar nichts. Denn er wird tot sein…«
Die Stimme war da. Sie umwehte meinen Kopf. Sie war wie eine leicht überzogene und schrille Melodie, zu der jemand die passenden Worte geschrieben hatte.
Ich bewegte mich nicht vom Fleck. Selbst das Zwinkern mit den Augen konnte schon eine tödliche Situation heraufbeschwören.
Nicht nur ich stand unbeweglich, auch Michelle rührte sich nicht mehr.
Sie sah aus wie eine Frau, die vom Himmel in die Hölle gerutscht war.
Sie konnte nicht fassen, daß sich das Blatt auf eine so dramatische Art und Weise gewendet hatte.
Sie war auch nicht in der Lage, ein Wort zu sagen. Die veränderte Situation hatte ihr die Sprache verschlagen, und ich hörte sie nur schnaufend atmen.
Ich wollte die Lage nicht verschärfen, aber ganz still sein konnte ich auch nicht. »Du bist gekommen, Alain. Woher? Woher kommen die Toten, denn du bist ja kein Mensch mehr.«
»Ich weiß.«
»Kommst du aus dem Jenseits?«
»Was ist schon das Jenseits?«
»Die Welt der Toten. Die Zone hinter der unseren, denke ich mir.«
»Oh, was bist du schlau, Sinclair. Ja, ich kenne deinen Namen. Ich weiß auch, daß meine Schwester dir mehr vertraut als mir, aber das wird sich ändern.«
Ich wollte ihn von diesem Thema wieder abbringen und fragte: »Wo ist das Jenseits?«
»Ich komme daher.«
»Es entläßt keine Toten.«
Ich hatte ihn provozieren wollen, und das war mir auch gelungen. »Vielleicht nicht, aber es gibt dort Zonen und Schichten, verstehst du? Ich bin in einer besonderen gewesen. Sie ist nur für bestimmte Seelen reserviert und öffnet sich nur selten der normalen Welt.«
»Hat die Zone auch einen Namen?« fragte ich sehr ruhig weiter und versuchte, das Messer an meiner Kehle zu ignorieren.
»Ja, das hat sie, Sinclair. Es ist die Ebene der Selbstmörder. Verstehst du?«
»Schon besser.«
»Selbstmörder landen dort. Welche, die der Himmel und auch die Hölle nicht haben wollen. Sie erleben dort ihr Fegefeuer. Man läßt sie leiden, denn auf der normalen Welt gilt ein seltsames Recht. Keiner soll sich sein Leben selbst nehmen. Man sieht es als eine Sünde an. Aber ich habe anders darüber gedacht. Ich nahm mir das Leben, weil ich die Scheiße hier nicht mehr ertragen konnte.«
»Geht es dir jetzt besser?«
»Ja.«
»Obwohl du auf dieser Welt bist, die du einmal so stark gehaßt hast?«
»Ich weiß ja, daß ich wieder zurückkehren kann. Ich bin so etwas wie ein Springer. Und ich weiß auch, daß ich jemand mitnehmen werde. Nicht dich, Sinclair, sondern meine Schwester Michelle. Mit unserem Blut haben wir den Pakt geschlossen, der auch über unseren Tod hinweg Bestand haben wird. So ist es damals versprochen worden, und danach werde ich mich auch richten. Ich nehme meine Schwester mit, denn sie soll für alle Ewigkeiten an meiner Seite bleiben.«
»Sie will nicht.«
»Sie muß!«
»Und dann?« fragte ich. »Was passiert dann? Werden auch diese seltsamen Begleiter kommen und sie empfangen?«
»Es sind die Seelenholer. Die Totenholer aus der Ebene der Selbstmörder. Ich habe über sie in alten Legenden und Geschichten gelesen. Sie sind schon im alten Ägypten erwähnt worden. Es sind Geister, die keine Ruhe finden. Die beschützen und begleiten, die auch dort existieren, wo ich wieder hingehe.«
»Deine gibt es nicht mehr.«
»Ich weiß, du hast sie vertrieben. Aber auch ohne sie bin ich stark. Es gibt genug von ihnen. Die Grenzen sind offen für Michelle und für mich. Deshalb werden wir uns jetzt auf den Weg machen, kleine Schwester. Nicht wahr?«
Die beiden letzten Worte hatten
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