1129 - Das Blutmesser
Michelle gegolten, und ich war gespannt darauf, wie sie reagierte. Bisher hatte sie nichts getan und nur starr auf dem Fleck gestanden, die Arme leicht erhoben und die Hände um das Kreuz gelegt.
»Hast du mich gehört, Michelle?«
»Ja.«
»Dann rede.«
Sie tat es nicht und schüttelte den Kopf.
»Was ist? Willst du nicht?«
»Nein, Alain, ich will nicht, ich habe es dir schon einmal gesagt. Mein Platz ist hier auf der Welt und nicht im Jenseits oder wo auch immer. Du kannst mich nicht zwingen, denn ich bin jetzt stark geworden. Unser Schwur gilt nicht mehr für mich. Auch du solltest ihn vergessen, Alain. Es ist nicht mehr so wie früher.«
»Nein«, sagte er, »nein, ich werde und kann ihn nicht vergessen. Das darfst du nicht denken, und ich werde auch nicht aufgeben. Ich bin gekommen, um mir das zu holen, was mir zusteht.«
»Ich bin nicht dein Eigentum.«
»O doch, Schwester. Bis über den Tod hinaus. So haben wir es damals gesagt. Dein Blut und mein Blut. Es ist alles zusammengekommen, und die Verbindung steht.«
Jetzt begann sie zu zittern. »Ich kann es nicht. Ich will es auch nicht!«
Sie schrie los. »Begreif das endlich, Alain! Wir sind nicht mehr zusammen. Du bist nicht mehr mein Bruder, verdammt. Du bist nur noch ein schreckliches Geschöpf.«
Die Worte hallten im Atelier nach, und Alain ließ sie ausklingen. Erst dann gab er die Antwort. »Ja, du bist anders geworden, kleine Schwester, aber ich gebe nicht dir die Schuld, sondern dem Mann hier, der sich für so stark gehalten hat. Aber das ist er nicht. Ich weiß es genau. Er ist nicht stark, und ich werde es dir beweisen.«
Für mich wurde es allmählich kritisch. Es war schlecht, daß ich diese Gestalt nicht greifen konnte. Sie stand hinter mir. Ich fühlte sie wie einen dünnen eisigen Vorhang. Wenn ich jedoch nach hinten griff, würde meine Hand hindurchgleiten und ins Leere fassen. Ich würde nur diese Kälte zu spüren bekommen.
Echt war die Klinge. Das alte Blutmesser, und es war verdammt scharf, das bewies mir die Gestalt, als sie die Klinge leicht bewegte. Nur hauchzart strich sie über meine Kehle hinweg, aber sie hinterließ zugleich diesen Schmerz, der sich von links nach rechts zog und parallel zum Schnitt lief. Es entstand eine schmale Wunde, und der Blutstreifen war auch für Michelle sichtbar, deren Züge versteinert und ohne Leben wirkten.
An der rechten Seite meiner Kehle kam die Klinge zur Ruhe. Neben meinem Ohr hörte ich das Kichern, das schließlich in Worte mündete. »Es war nur eine Demonstration, Schwester, nicht mehr. Aber beim nächstenmal, wenn ich unser Blutmesser von rechts nach links ziehe, dann drücke ich zu, verstehst du?«
Michelle nickte nur.
»Es liegt jetzt an dir.«
»Was soll ich tun?«
»Weg mit dem Kreuz!«
Das hatte ich mir gedacht. Michelle wohl nicht, denn sie erbleichte noch stärker und zuckte zusammen. Gleichzeitig umklammerten die Hände mein Kruzifix noch stärker, als wollten sie aus ihm alle Kraft hervorholen.
»Hast du nicht gehört?«
»Doch - ja.«
»Dann tu es!«
Michelle löste die Hände vom Kreuz. Es lag jetzt frei und sichtbar vor uns. Ihre Hände sanken nach unten, und der fragende Blick war nur auf mich gerichtet, denn bei mir suchte sie Rat.
»Wenn du es nicht tust, dann…«
»Bitte, Michelle«, unterbrach ich Alain. »Tu, was er gesagt hat.«
»Aber dann bin auch ich hilflos.«
»Ich weiß.«
»Er wird auch dich töten.«
Das war mir klar. Nur sprach ich es nicht aus. Alain hatte keinen Grund, mich am Leben zu lassen. Er wollte alles so richten, damit es für ihn optimal war. Das Kreuz störte ihn. Es war eine Barriere. Er würde sie nicht überschreiten können. Denn er war jemand, der aus einer negativen Dimension stammte.
»Ich warte nicht mehr lange, Schwester!«
»Bitte, Michelle«, flüsterte ich.
»Ja«, sagte sie mit sehr trauriger Stimme. »Es gibt wohl keine andere Möglichkeit mehr.«
»So ist es, Schwester.«
Michelle enthielt sich einer Antwort. Sie bewegte ihre Hände sehr langsam, und sicherlich auch bewußt, als wollte sie mir eine Chance geben, doch noch einen Ausweg zu finden.
Ich machte mir Gedanken darüber, wie es weiterging, wenn sie die Kette mit dem Kreuz über den Kopf gestreift hatte. Sie würde es wegwerfen müssen, und dann, wenn es Alain nicht mehr störte, hatte er endlich freie Bahn und konnte das verdammte Messer mit dem entsprechenden Druck quer über meine Kehle ziehen.
Michelle Maron ließ mich nicht aus den Augen. Sie
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