1129 - Das Blutmesser
Handbesen und die Schaufel schon mitgebracht, bückte sich und machte sich an die Arbeit. Es klirrte leise, als er die Splitter auf das Blech fegte. In weniger als zwei Minuten hatte er die unmittelbare Umgebung des Tisches gesäubert und zog sich wieder zurück. Zuvor fragte er noch, ob Michelle etwas zu trinken wünschte.
Die Antwort gab der Mann. »Bringen Sie ihr einen guten Whisky. Der hilft manchmal Wunder.«
»Gern.«
Michelle hob den Blick. Der Fremde war jetzt dabei, ihre Hand abzutupfen. »Warum tun Sie das?« fragte sie.
»Ich bin zufällig vorbeigekommen und habe gesehen, daß das Glas zwischen Ihren Händen zerbrach.«
»Ich habe wohl zu kräftig zugegriffen.«
»Nur das?«
Michelle räusperte sich. »Wie… meinen Sie?«
»Sie haben sich etwas seltsam benommen«, sagte der Fremde. »Wenn ich mir in die Hand schneide, dann schrecke ich auf. Ich fluche, ich ärgere mich darüber, aber bei Ihnen ist das nicht der Fall gewesen. Sie haben nichts dergleichen getan. Sie saßen da und kamen mir vor, als wären Sie weggetreten. Oder eingeschlafen.«
Michelle schaute den Fremden direkt an. »Irgendwie haben Sie auch recht, Mister.«
»Ich will nicht unbedingt neugierig sein, aber es würde mich schon interessieren, wie so etwas passieren kann.«
Mich auch, wollte sie sagen, doch der Whisky wurde gebracht, und der Vorgang hielt sie zunächst von einer Antwort ab. Der Mann wickelte noch die Serviette um ihre rechte Hand und drückte ihr das Glas in die andere.
»Dann trinken Sie mal.«
»Danke.« Zum erstenmal konnte sie lächeln. »Ich heiße übrigens Michelle Maron.«
»Ein schöner Name. Mich können Sie John Sinclair nennen…«
***
Tja, und so lernte ich die ungewöhnliche Michelle Maron kennen. Es war wieder einmal einer der Zufälle im Leben, die einem kaum ein Mensch abnimmt, wenn man es erzählt. Aber es traf zu, denn an diesem Samstag war ich unterwegs.
Nicht dienstlich, nein, ich hatte vorgehabt, mal einige Stunden durch die Geschäfte und Ladenstraßen zu schlendern, denn hier konnte man schauen, laufen, trinken, essen, und man brauchte sich nicht um das Wetter zu scheren, das dieses Wochenende zu hassen schien, denn aus den tief liegenden Wolken rann und nieselte es schon seit der vergangenen Nacht. Kein goldener Oktober. Dafür ein Wetter, das man vergessen konnte. Ich hatte auch keinen Nerv gehabt, in der Wohnung zu bleiben und die Scheiben anzustarren, und so war ich einfach allein losgezogen und zu dieser Laden-Passage in Covent Garden gefahren, um mich ein wenig in der Glitzerwelt umzuschauen.
Ich wollte die Zeit und den Tag einfach mal an mir vorbeifließen lassen und eine Auszeit nehmen, denn die braucht der Mensch, um für andere Aufgaben wieder fit sein zu können. In den letzten Wochen war es bei mir verdammt rund gegangen, und das steckte ein Mensch nicht so einfach weg. Irgendwann mußte man einfach etwas anderes sehen.
Michelle hatte das Glas zur Hälfte geleert und stellte es wieder auf den Tisch. Sie schüttelte den Kopf und schaute dann auf das Tuch mit den roten Flecken. »Sie halten mich bestimmt für überspannt und völlig durchgedreht, Mr. Sinclair.«
»Nein, auf keinen Fall. Aber sagen Sie bitte John zu mir. Das gefällt mir besser.«
»Toll, gern. Ich bin Michelle.«
»Und weiter?« Ich trank endlich einen Schluck vom Kaffee, der schon etwas abgekühlt war.
»Nichts weiter. Alles war so normal unnormal. Ich habe nicht vor Schmerz geschrieen, als das Glas zerbrach, denn ich habe es kaum gemerkt. Ich war plötzlich weg.«
»Bitte?«
Michelle sah den ungläubigen Blick ihres Gegenübers. »Ja, ich bin weg gewesen. Als hätte man mir schlagartig das Bewußtsein genommen.«
»Sind Sie eingeschlafen?«
»Nein.«
»Sondern?«
Jetzt trank sie ihr Glas leer. Die leicht geröteten Wangen färbten sich noch mehr. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll, John. Ich fand mich plötzlich in einer anderen Welt wieder. Das war schon eigenartig. Ich habe alles gesehen. Das Blut, das Messer…«
»Ihr Blut?«
»Nein, nicht mein Blut. Ein anderes. Es füllt eine Schale zur Hälfte. Neben der Schale lag ein aufgeklapptes Rasiermesser, und ich sollte es greifen, um mich damit zu schneiden.«
»Und das wollten Sie tun?«
»Ja!« sagte sie leise und nickte. »Ja, John, ich habe es tatsächlich tun wollen.«
»Warum taten Sie es dann nicht?«
»Weil jemand meine rechte Hand berührte und ich wieder aus meinem Traum hervorgerissen wurde. Als ich dann die
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