1129 - Das Blutmesser
aber trotzdem will es mir nicht in den Kopf, daß gerade ich an der Reihe bin und von ihnen ausgesucht wurde. Ich sitze hier und kann nur den Kopf schütteln. Die gleiche Frage brandet stets in mir auf. Was habe ich getan, daß man mich so quält?«
»Liegt es vielleicht in Ihrer Vergangenheit begründet?«
»Keine Ahnung«, murmelte sie. »Wenn Sie allerdings meinen, daß ich schon früher einen Kontakt mit diesen Dingen gehabt hätte, dann muß ich Sie enttäuschen. Ich bin völlig normal groß geworden. Ich habe nichts dergleichen erlebt. In meinem Leben gab es keine Vorgänge, die nicht logisch erklärbar sind, obwohl ich Künstlerin bin und man ihnen ja nachsagt, daß sie eine besondere Sensibilität besitzen. Aber nicht auf diese Art und Weise, denke ich.«
»Wann fing alles an?«
»Lassen Sie mich überlegen.« Michelle schaute ins Leere. »Es geht ungefähr seit zwei, drei Wochen so.«
»Da hörten Sie die Stimmen.«
»Ja. Verrückt, nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte schon zu einem Arzt gehen, dachte mir dann, daß er mich nur auslachen würde, und habe es gelassen. Aber die Stimmen waren da. Sie vermehrten sich auch und nahmen an Intensität zu.« Michelle stoppte ihre Erklärungen und schaute mich an. »He, warum lachen Sie mich jetzt nicht aus, John? Los, lachen Sie, bitte…«
»Nein, warum sollte ich Sie auslachen? Es gibt nichts zu lachen.«
Michelle tippte gegen ihre Stirn. »Aber eine Person, die Stimmen hört, kann doch nicht normal sein.«
»Das sagen Sie jetzt so einfach. Ich sehe das etwas anders.« Nach diesen Worten fügte ich keine Erklärung mehr hinzu, denn ich dachte an einen Fall, der mich hart berührt hatte und nicht einmal lange zurücklag.
Da hatte ich ebenfalls eine Stimme gehört und einen Killer mit dem Gesicht meines verstorbenen Vaters erlebt. Deshalb war für mich nicht so unwahrscheinlich, was mir diese Frau erzählte.
»Wie anders sehen Sie es denn, John?«
»Indem ich Ihnen glaube.«
»Ach. Sie halten mich nicht für verrückt?«
»Nein, warum sollte ich?«
»Warum sollten Sie nicht?«
»Weil die Seele eines Menschen auch noch heute unergründlich ist. Das dürfen Sie nicht vergessen. Man kann vieles erforschen, aber an der menschlichen Seele wird man sich die Zähne ausbeißen. Und es hängt viel damit zusammen. Das Leben wird nicht nur durch den Körper bestimmt, auch die Seele spielt eine sehr große Rolle. Das ist meine Meinung, und die bekomme ich auch immer wieder bestätigt.«
»Toll, wie Sie das gesagt haben. Das macht mir Mut.«
»Soll es auch.«
»Trotzdem fürchte ich mich. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich fürchte mich nicht nur davor, daß sich bestimmte Dinge wiederholen könnten, ich fürchte mich auch vor dem Alleinsein. Ja, ich habe Angst davor, allein zu sein. Daß sie wieder zu mir kommen und mich überfallen. Daß sie brutal zuschlagen und mich wirklich töten. Wobei ich überhaupt nicht weiß, was ich getan habe. Das ist das Tragische. Ich bin mir keiner Schuld bewußt.«
»Ja, das sehe ich auch so. Trotzdem müssen Sie jemand in die Quere gekommen sein, wem auch immer.«
»Wer könnte das sein?«
»Die andere Seite.«
»Gut gesprochen, aber damit ist mir nicht gedient. Eine andere Seite gibt es wohl. Na ja…« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin wohl nicht in der Lage, dies alles begreifen zu können. Da scheinen Sie mehr Erfahrung zu haben. Zumindest finde ich es toll, daß Sie sich um mich gekümmert haben, John.«
»Das war selbstverständlich.«
»Heutzutage ist es das nicht. Die Menschen sind doch mehr auf sich selbst fixiert. Da regiert der Egoismus. Aber das ist jetzt nicht das Thema, John. Ich fürchte mich davor, wieder allein in meinem Haus zu sein. Können Sie das verstehen?«
»Kann ich.«
Michelle Maron senkte den Kopf. »Danke, daß Sie es mir so gesagt haben.«
»Man könnte es ändern, wenn Sie nichts dagegen haben und mich nicht falsch verstehen.«
»Wie bitte?«
»Sie brauchen nicht allein zu sein. Ich könnte sie nach Hause bringen. Wie gesagt, verstehen Sie mich nicht falsch und…«
Michelle ließ mich nicht aussprechen. »Das… ahm … wollen Sie wirklich für mich tun?«
»Ja, wenn Sie wollen.«
»Das wäre ja stark. Einfach super. Das würde ich… Himmel, das kann ich gar nicht annehmen.«
»Doch, Michelle. Sie sollten es tun. Nehmen Sie mein Angebot an, ich bitte Sie.«
Sie stieß die Luft aus. »Störe ich Sie denn nicht, John? Ich meine, Sie sind hier durch die Passage
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