1136 - Das Blut der Bernadette
»Ich bin immer in der Nähe der Oberin. Ich arbeite als ihre Sekretärin. Ich kümmere mich um den schriftlichen Kram. Ich bin Mädchen für alles.«
»Wie kommt man zu diesem Job?«
Polly stierte für einen Moment vor sich hin, bevor sie den Daumen drehte und nach unten deutete.
»Zu diesem Job kommt man nur, wenn man unten, tief unten ist. Ich war mit dem Leben fertig. Schicksalsschläge. Der Tod meiner Mutter, eine Beziehung, die auseinanderbrach. Da wußte ich nicht, wie es weitergehen sollte. Dann traf ich die Oberin. Es war Sonntag. Ich weiß es noch wie heute. Wir sahen uns in der freien Natur. Ich bin aus London weggefahren. Ich wollte einfach nur spazierengehen. Das tat ich hier in der Gegend. Bernadette sah mich. Auch sie war unterwegs. Sie wußte sofort, daß mit mir etwas nicht stimmte, und nahm mich unter ihre Fittiche. Ich war damals wirklich down und freute mich, jemand gefunden zu haben, der mir zuhört. Bernadette hat es getan. Sie ging auf mich ein, sie hatte ein so großes Verständnis für mich, und dann rückte sie mit ihrem Vorschlag heraus. Sie bot mir einen Job im Kloster an. Ich habe ihn angenommen. Es blieb mir keine andere Wahl. Können Sie das verstehen?«
Wir stimmten ihr zu.
»Sofort ging es los. Von einem Tag auf den anderen. Nichts war mehr wie sonst. Meine kleine Wohnung löste die Oberin auf. Sie hat alles für mich in die Hand genommen. Ihr fehlte jemand mit einer kaufmännischen Ausbildung. Ich konnte zudem mit dem Computer umgehen und hatte eigentlich freie Hand, was meinen Beruf betraf. Das geistige Gefängnis jedoch zog sich immer enger. Da war die Freiheit schon begrenzt. Ich kam nicht weg, wie auch die Schülerinnen nicht, und ich merkte, daß es auch ein Geheimnis gab, das hinter den Klostermauern verborgen lag. Ich habe nie gefragt, doch ich hielt die Augen auf, und ich sah, daß die Oberin oftmals in der Nacht verschwand.«
»Gut. Wo ging sie hin?«
»Das weiß ich nicht, Jane. Ich habe mich nicht getraut, ihr zu folgen. Ich hatte einfach Angst. Ich war innerlich längst nicht so stabil, um der Oberin in den Rücken zu fallen. Aber weit kann sie nicht gegangen sein. Ich habe kein Auto gehört, nichts. Sie muß in der Nähe des Klosters geblieben sein.«
»Es gibt also einen fahrbaren Untersatz«, sagte ich.
»Klar. Aber der gehört der Oberin.«
»Und was ist mit einem Motorrad?« forschte ich weiter.
Polly legte die Stirn in Denkfalten. »Nein, davon habe ich nichts gehört. Ich glaube auch nicht daran, daß es so etwas im Kloster gibt. Niemand bei uns fährt damit. Das müssen Sie mir schon glauben. Die Oberin würde es auch nicht zulassen.«
»Gibt es männliche Personen im Kloster?«
Auch über diesen Themenwechsel war sie erstaunt. »Nein, wir sind nur Frauen. Das heißt, hin und wieder erhalten wir schon von einem Mann Besuch. Es ist der Pfarrer einer Nachbargemeinde. Er hält dann eine Messe ab. Das ist alles.«
»Vertrauen Sie ihm?«
»Nein, John, auf keinen Fall. Ich kann ihm nicht vertrauen. Er versteht sich zu gut mit der Oberin. Der Pfarrer tut, was sie sagt. Er steht hinter ihren Zielen, obwohl er noch recht jung und nicht verknöchert ist. Aber gegen sie agieren würde er nie, das können Sie mir glauben.«
»Dann wären sie auch nicht zu ihm geflohen«, sagte ich.
»So ist es. Ich wäre zu diesem Bauernhof gelaufen. Da gibt es ein Telefon. Ich hätte versucht, mir ein Taxi zu bestellen oder den Bauern gebeten, mich wegzubringen. Das ist unsere einzige Möglichkeit, John. So wollte auch Rita handeln. Darüber haben wir beide schon intensiv gesprochen.«
»Warum versuchte Rita als erste die Flucht?« fragte Jane. »Warum haben Sie es nicht gemeinsam getan?«
Polly lachte und nickte zugleich. »Da haben Sie eine gute Frage gestellt. Vielleicht war ich zu feige«, murmelte sie. »Vielleicht wollte ich erst abwarten, ob Rita es schafft. Und dann interessierte mich auch die Reaktion der Oberin.«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Nichts, Jane, sie tat nichts. Sie hat sich nicht gerührt. Sie tat so, als wäre nichts passiert. Man sprach nicht mehr über Rita. Eine wie sie schien es nie im Heim oder im Kloster gegeben zu haben. Ist das nicht komisch?«
»Bestimmt«, gab Jane zu. »Doch das ist nicht alles. Mir stößt auch seltsam auf, daß Rita eigentlich nicht zu euch paßte. Ich meine damit, nicht zu den Schülerinnen mit einem bestimmten Schicksal, denn sie ist keine Waise gewesen. Sie hatte noch Eltern, das weiß ich genau.«
»Davon hat
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