1137 - Madame Tarock
hatte sie ein Tuch geschlungen, das rote Punkte auf einem weißen Untergrund zeigte.
Momenteindrücke, die ich verarbeitete, während ich mich noch in Bewegung befand und dem Mann, der vor ihr hockte, den vernickelten Revolver aus der Hand riss. Damit hatte er geschossen, aber es gab keine Leiche. Er musste die Frau trotz dieser kurzen Distanz verfehlt haben.
Auch Harry war inzwischen da. Während ich noch hinter dem Mann stand, hatte Harry sich links neben dem Schreibtisch aufgebaut und schaute von der Seite her zu.
Niemand sprach in dieser Lage ein Wort. Nur der Mann auf dem Stuhl jammerte vor sich hin und glotzte auf seine Ringe an den Fingern.
Hinter mir hörte ich Geräusche. Eine kurze Drehung des Kopfs reichte aus. Beide Leibwächter waren auf das Boot gestürmt. Sie blieben jedoch am Eingang stehen.
Die Frau hatte die Lage im Griff. Wie sonst hätte sie mich anlächeln können. »Wer sind Sie?«
»Das müssten Sie doch wissen, wenn Sie sich schon als Wahrsagerin bezeichnen.«
»Ich bin nicht allwissend.« Sie blickte zu Harry. »Aber wir kennen uns. Ich hätte nicht gedacht, daß wir uns so rasch wiedersehen würden. Wollen Sie sich bedanken, dass ich Ihnen das Leben gerettet habe«, sie deutete auf ihr Gegenüber, »das Victors Killer ihnen sonst genommen hätte? Finde ich nett.«
Ob Harry die Sache peinlich war, bekam ich nicht mit. Er wollte sich damit auch nicht auseinandersetzen und fragte: »Wer hat geschossen?«
»Victor«, sagte die Frau.
»Und?«
Madame Tarock lachte. »Nichts ist passiert. Oder sehen sie jemand, der tot ist?«
»Nein.«
»Dann ist ja alles in Ordnung.«
Das war es bestimmt nicht, und das wussten auch Harry Stahl und ich. Bewußt hatte ich mich zurückgehalten und war auch etwas zur Seite getreten, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen, denn ich wollte auch die beiden Leibwächter im Auge behalten. Sie griffen nicht ein und standen nur an der offenen Tür wie zwei Säulen. Dafür saß ihr Boss als Häufchen Elend auf dem Stuhl.
Er war ein Gangster. Er war jemand, der sich in der großen Stadt Berlin Respekt verschafft hatte, wie auch immer. Wahrscheinlich mit brutalen Methoden. Nun diese Wandlung. Nichts war von einem Typ zu sehen, der ein Imperium regierte. So wie er sah ein Verlierer aus. Deshalb musste etwas passiert sein, das ihn in diesen Zustand hineingebracht hatte.
Aber was?
Es war geschossen worden. Zweimal. Es gab keine Leiche, aber auch keine Einschusslöcher in der Wand gegenüber. In die Decke hatte er auch nicht gefeuert. Zumindest nicht dort, wohin ich meinen Blick schickte. Es sah alles so normal aus, aber es war nicht normal, verdammt! Das wußte ich.
Ich wandte mich wieder an Madame Tarock. Auch die halb verbrannte Karte auf dem Tisch war mir aufgefallen. Zingara fühlte sich überlegen. Sie lächelte und fragte: »Gibt es noch irgendwelche Probleme, meine Herren? Wenn nicht, dann möchte ich gern gehen. Ich befürchte schon, mich verspätet zu haben, denn ich war mit einem englischen Reporter verabredet, um über gewisse Phänomene zu sprechen.«
Ihre Erklärung kam mir wie gerufen, und ich entschied mich blitzschnell. »Der Mann bin ich!«
Diesmal hatte ich die Wahrsagerin überrascht. Sie drehte den Kopf und blickte mich aus ihren dunklen, sehr geheimnisvollen Augen an. »Ach, das ist eine Überraschung!«
»Kann man sagen.«
»Aber wir waren in der Stadt verabredet.«
»Das ist richtig. Nur habe ich einen alten Bekannten getroffen, nämlich Harry Stahl. Ihm habe ich von meinem Vorhaben berichtet. Es war wirklich Zufall, dass er auch mit Ihnen zu tun hatte. So sind wir dann gemeinsam zum Hausboot gefahren.«
»Verstehe«, sagte Zingara und nickte mir zu. »Dann sind Sie also Bill Conolly?«
Ich hatte die Frage verstanden, und ich hatte auch sehr genau die Zweifel herausgehört. Diese Frau war nicht so einfach aus dem Geschäft zu bluffen. Sie wusste mehr als sie zugab. Sie zeigte es nur nicht, das bewies mir ihr feines Lächeln.
»Es sieht so aus«, sagte ich.
Ihre Augen verengten sich. »Sie gestatten, dass ich daran meine Zweifel hege?«
»Warum?«
Zingara warf ihren Kopf zurück und lachte. »Sie sollten nicht vergessen, dass ich eine Wahrsagerin bin. Da bekommt man mehr mit als ein normaler Mensch.«
»Da muss ich Ihnen recht geben.«
»Sie sind nicht Bill Conolly!«
»Stimmt.«
»Sehen Sie«, antwortete sie weich. »Hin und wieder ist es gut, wenn man hinter die Kulissen schauen kann.«
»Wissen Sie denn, wer ich
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