1139 - Das Herz der Jungfrau
normal zu wirken.
An der Tür hielt sich niemand auf. Sie war auch nicht weiter geöffnet worden. Woanders musste sich etwas verändert haben. Mit schlurfenden Schritten und gebückt ging die alte Frau weiter, und sie bewegte sich dabei auf die Fenster zu. Sie waren einfach zu klein.
Im Winter hängte sie Lappen davor. Jetzt bestanden sie nur aus normalen Öffnungen.
Zwar hatte sie das Zweite Gesicht, doch mit dem Sehen hatte sie ihre Schwierigkeiten. Vieles sah sie nur verschwommen und recht schattenhaft. Wenn dann noch die Dunkelheit hinzukam wie jetzt, nahmen die Schwierigkeiten noch zu.
Sie sah das Fenster, und sie sah auch, dass sich dort etwas verändert hatte. Das Viereck wurde von etwas Dunklem ausgefüllt. Es konnte das Gesicht eines Menschen sein oder etwas anderes.
Sie streckte den rechten Arm wie zur Begrüßung aus und ging schneller auf das Fenster zu. Vielleicht war es ja Dean McMurdock, der hineinschaute.
Er war es nicht. Gabriela erkannte auch nicht, was sich hinter dem Viereck verbarg. Ihr Gehör war noch gut, und sie bekam dieses sirrende und auch leicht pfeifende Geräusch mit.
Mehr sah sie nicht. Mehr konnte die alte Frau auch nicht sehen, denn der zielgenau abgeschossene Pfeil erwischte sie dicht unter dem Hals.
Sie spürte nur einen wahnsinnigen Schlag, der sie zurücktrieb.
Ihre Beine verloren den Kontakt mit dem Boden. Sie riss den Mund auf, aus dem ein heiseres Röcheln drang. Die Augen waren verdreht, die Arme flatterten, als sie bewegt wurden, und einen Moment später erfasste sie ein wahnsinniger Schwindel.
Gabriela drehte sich noch im Kreis, dann war es endgültig vorbei.
Sie prallte zu Boden und blieb auf der Pferdedecke ihres Besuchers liegen…
***
Ich hatte überlegt, wie ich so schnell wie möglich nach Hause kam.
Ein Taxi brachte nicht viel. Es würde im Londoner Verkehr stecken bleiben, also fuhr ich wieder mit der U-Bahn, und das war nicht eben begeisternd. Um diese Zeit waren die Wagen wesentlich voller als in den Morgenstunden. Da drängten sich all die zusammen, die ihre Weihnachtseinkäufe in großen Tüten oder als Pakete mitschleppten und alle einen recht erschöpften Eindruck machten.
Zumindest die Erwachsenen und Älteren. Bei den jüngeren Leuten sah es anders aus. Die benahmen sich wieder, als würde ihnen die U-Bahn allein gehören, aber sie blieben friedlich und störten nicht so, dass ich hätte eingreifen müssen.
Neben mir saß eine dicke Frau, die aufgrund der Einkäufe in Schweiß geraten war und auch so roch. Ich war froh, dass sie vor mir ausstieg, und ich gab mich wieder meinen Gedanken hin.
Worum ging es eigentlich?
Auch wenn ich mir die Frage mehr als einmal gestellt hatte, eine Antwort darauf hatte ich noch nicht gefunden. Es ging nach wie vor um eine geheimnisvolle Person, die sich X-Ray nannte und möglicherweise so etwas wie ein Agent der Weißen Macht war, dem Geheimdienst des Vatikans, bei dem mein alter Freund Father Ignatius eine wesentliche Rolle spielte. Er war aus dem Kloster St. Patrick ins Zentrum geholt worden, und es war seine Aufgabe gewesen, den Geheimdienst auszubauen. Nach wie vor stellte er meine Silberkugeln her, das hatte er sich nicht nehmen lassen. Ob es allerdings noch einen Kontakt zum Kloster gab, wusste ich nicht. Diese Trutzburg hatte schon manchen Sturm des Grauens erlebt, auch die Attacken der Horror-Reiter oder einen Überfall finsterer Blutsauger. Viel war geschehen, und viel würde noch geschehen.
Es war komisch oder auch normal, dass mir gerade zum Jahresende immer wieder diese Gedanken kamen. Da wurden im Rückblick so manche Erinnerungen zu sehr plastischen Bildern.
Der Platz neben mir war nicht frei geblieben. Ein junger Mann mit einer roten Weihnachtsmütze stierte vor sich hin und roch wie ein offenstehendes Schnapsfass.
Zum Glück konnte ich an der nächsten Station aussteigen und ging den Rest der Strecke zu Fuß. Im Flur hatte der Hausmeister einen Tannenbaum aufgestellt und war damit beschäftigt, einige Nadeln zusammenzufegen. Er sah mich und stemmte sich wie ein Arbeiterdenkmal auf seinen Besen.
»Ho, Mr. Sinclair, was ist denn mit Ihnen los?«
»Wie?« Ich lachte knapp. »Was soll sein?«
»Na, die Pakete.«
»Ein paar Geschenke, nichts Besonderes. Was tut man nicht alles für seine Freunde.«
Wie ein Lehrer hob er den Zeigefinger. »Sehr richtig. Man soll froh darüber sein, wenn man in dieser Zeit noch Freunde hat. Sie ist sowieso kalt genug geworden.«
»Sie sagen es.«
Er hatte
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