1139 - Das Herz der Jungfrau
geben, in dem alle Konturen verschwammen.
Er wollte sie vorher finden. Aber wo?
Immer wieder rann es kalt über seinen Rücken, als er daran dachte, wie gut sich seine Gestalt trotz der Dunkelheit vor dem Brunnen abhob. Wenn sie mit Pfeil und Bogen oder Armbrüsten bewaffnet waren, konnte er von einem guten Schützen leicht getroffen werden.
Dean McMurdock gelangte zu dem Schluß, dass der Platz außerhalb des Hauses nicht gut war. Er wollte wieder hineingehen, auch wenn dort die alte Frau schlief.
Nein, sie schlief nicht, sie war wach. Dean erschrak, als er das Geräusch der Tür hörte. Gabriela hatte sie weiter aufgezogen. Ihre kleine Gestalt erschien wie ein Schattenwesen in der Lücke. Ihr Flüstern wehte ihm entgegen.
»Bist du da, Dean?«
»Ja.«
»Warum schläfst du nicht?«
Er wollte ihr nicht die Wahrheit sagen und entschloss sich zu einer Notlüge. »Es war mir zu warm. Ich wollte etwas frische Luft schnappen.«
Gabriela glaubte ihm nicht so recht. »Ist wirklich nichts passiert und alles normal?«
Er log weiter. »Ja, du kannst dich darauf verlassen.«
»Dann komm wieder zurück ins Haus.«
»Sicher. Gleich. Ich möchte nur noch einmal um das Haus gehen und mir die Beine vertreten.«
»Da ist doch was…«
»Nicht, dass ich wüsste. Bitte, Gabriela.«
»Schon gut.«
Sie zog sich wieder zurück, und Dean McMurdock wusste genau, dass ihr Misstrauen nicht abgeklungen war. Sie war nicht umsonst die Frau mit dem Zweiten Gesicht. Wahrscheinlich hatte sie etwas bemerkt, ohne es zugeben zu wollen.
Er setzte seinen Plan in die Tat um. Einmal um das Haus herumgehen. Die anderen unsicher machen und sie aus dem Versteck locken.
Er ging einfach davon aus, dass sie mindestens zu zweit waren, denn die Häscher kamen nie allein.
Er war kampfbereit. Er würde sie stellen – und töten!
Gabriela hatte die Tür wieder zugezogen, sie jedoch nicht ganz geschlossen. Mit kleinen Schritten ging sie tiefer in die Hütte hinein. In ihrem Gesicht bewegte sich die Haut, ausgelöst von der Bewegung der Lippen. Sie sah aus, als wollte sie in einer nur innerlichen Sprache sprechen.
Es war nichts mehr wie noch vor einigen Stunden. Das wusste sie, auch ohne es beweisen zu können. Nicht umsonst hatte sie das Zweite Gesicht und die großen Eingebungen, verbunden mit den seherischen Qualitäten. Sie nahm vieles auf, sie gab nur nicht alles zu, und auch jetzt spürte sie die Gefahr, die irgendwo lauerte.
In der Nähe. Vielleicht sogar an der Hütte. Johanna war tot, aber die Wellen, die dieses Ereignis geschlagen hatten, wollten sich nicht legen. Solange das Herz der Frau nicht gefunden war, wurden sie weiter aufgewühlt.
Der Ausdruck des Gesichts erlebte eine Veränderung. Er wurde jetzt zu einem Lächeln. Sie wusste, wo sich das Herz befand. Sie war nicht bei der Verbrennung gewesen, doch sie hatte das schreckliche Ereignis auf ihre Weise miterleben können, dank des Zweiten Gesichts. Sie hatte die Schmerzen der Heldin gespürt und sich dabei so gefühlt, als wäre auch sie vom heißen Atem der Flammen getroffen worden.
Sehen, wissen, behalten – so lautete ihr Wahlspruch. Immer anderen nur das bekannt geben, was sie auch verantworten konnte. So hatte sie ihr Leben geführt, so war sie alt geworden. Viel älter als die meisten Menschen in dieser Zeit.
Doch für jeden Menschen auf der Welt war die Zeit einmal abgelaufen. Es war schon immer so gewesen, und es würde auch immer so bleiben. Der allerletzte Sieger war immer der Tod, der kam und seine Sense schwang.
Gabriela schlurfte durch ihr kleines Haus. Sie hatte Durst. Ihre Lippen und auch die Kehle waren trocken. Das Gefäß mit dem Wasser stand noch immer neben der Tür. Ihre Hände zitterten leicht, als sie nach der Kelle griff und sie eintauchte. Sie lauschte dem Klatschen, kniete jetzt und schlürfte das warm gewordene Wasser aus der Kelle. Es tat ihr trotzdem gut, und sie schloss für einen Moment die Augen, um die kleine Erfrischung zu genießen.
Bis ihr die Kelle aus der Hand rutschte. Sie landete mit einem klatschenden Geräusch im Wassertrog, und Gabriela merkte, dass sie sich versteifte. Etwas hatte sie gestört. Es war niemand außer ihr in der Hütte, und trotzdem war alles anders geworden. Die Kälte, die sie spürte, kam von innen, und Gabriela stand sehr langsam auf, wobei sie sich am Rand des Gefäßes abstützte.
Sollte ein Feind auf sie lauern, wollte Gabriela nicht, dass ihm auffiel, wie viel sie schon wusste. Sie bemühte sich, völlig
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