1140 - Der Rächer des Engels
sollte es die Zeit ergeben, dann wird er sich dir zeigen, denn er wird etwas bei sich tragen, was dich an unsere Begegnung hier erinnert.«
»Was ist das für ein Zeichen?«
Der Engel schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, du wirst es erkennen, wenn die Zeit reif ist.«
Er wusste genau, dass es keinen Sinn hatte, den Engel noch weiter mit Fragen löchern zu wollen.
Was er gesagt hatte, das hatte er mitgeteilt, alles andere war nicht wichtig.
»Dann soll ich jetzt das Herz nehmen und es wegbringen?«
»Ja.«
»Wohin?«
»Wenn du es in deine Hände nimmst, wirst du es wissen. Dann öffnet sich dir die andere Welt. Du kannst mir vertrauen, Dean.«
Ja, das tat er. Das musste er auch. Aber er hätte es lieber gesehen, wenn der Erzengel noch bei ihm geblieben wäre und ihn beschützt hätte. Das passierte leider nicht, denn Michael zog sich zurück. Es war ein ungewöhnlicher Vorgang, denn seine Gestalt und mit ihr auch das Licht lösten sich vor Deans Augen auf.
Die normale Finsternis wurde wieder der Sieger in diesem tiefen Gewölbe. Es war nicht ganz dunkel, denn dort, wo das Herz in der kalten Asche lag, brannte noch die letzte Fackel. Die restlichen Flammen krochen an ihrer Spitze in die Höhe, und sie sonderten auch einen rußigen Rauch ab.
Dean McMurdock wusste, was seine Aufgabe war. Er wusste ferner, dass er zu den Auserwählten zählte und seinen großen Beschützer auf keinen Fall enttäuschen wollte.
Sein Leben hatte sich verändert. Wenn er näher darüber nachdachte, kam er sich plötzlich vor wie jemand, der gegen die Flügel einer Windmühle kämpfte. Das Wort Leben hatte für ihn einen anderen Sinn bekommen. Er würde den Tod nicht so schnell erleben. Es gab zwar kein ewiges Leben für ihn, aber er würde lange, sehr lange auf dieser Welt wandeln und all die Veränderungen erleben.
Die Vorstellung freute und ängstigte ihn zugleich. Kalte und warme Ströme rannen über seinen Rücken hinweg.
Er schloss die Augen.
Kann ich wirklich fliegen? Bin ich ein halber Engel? Er hatte es erlebt, doch das war der mächtige Michael in seiner Nähe gewesen. Jetzt wollte er es noch einmal probieren.
Der Schotte schloss die Augen. Noch geschah nichts, bis er sich selbst den Befehl gab, wie man es ihm beigebracht hatte.
Er löste sich vom Boden. Langsam schwebte er in die Höhe. Als er die Augen wieder öffnete, hatte er beinahe die Decke erreicht. Dort blieb er in der Luft stehen und schaute auf den Kamin und die letzten Feuerzungen an seinem Fackelstab. Danach sank er wieder tiefer, rutschte über den Boden hinweg und ging auf die Feuerstelle zu, in der das Herz lag.
Wieder einmal musste er sich zusammenreißen. Schon einmal hatte er an dem gleichen Ort gestanden. Da war es ihm verwehrt worden, das Herz an sich zu nehmen.
Diesmal würde es anders sein. Es gab keinen Feind in der Nähe. Auch als er sich noch einmal umdrehte, blieb alles normal. Er ging zur Seite, hob sein Schwert an und steckte es in die Scheide. So gerüstet würde er mit dem Herz das Kellergewölbe verlassen können.
Er war aufgeregt. Holte tief Luft. Beugte sich vor, streckte auch die Arme aus, und schaffte es, das Herz zu umfangen. Er zitterte dabei, und er spürte auch, dass es noch pochte. Sehr leicht und nicht sofort zu merken. Man musste sich schon darauf konzentrieren.
Wie weich es sich anfühlte, obwohl es ihm einen gewissen Widerstand entgegenbrachte. Wie dunkle Würmer zeichneten sich auf der Oberfläche die Adern ab, durch die noch immer Blut rann.
Das Herz war ihm ebenso ein Rätsel wie er sich selbst. Mit ihm würde er eine neue Zeit erleben, aber er wusste noch nicht, wohin er es schaffen sollte.
Als auch nach einiger Zeit nichts passiert war, drehte er sich nach rechts und ging dorthin, wo die Treppe die in die Oberwelt der alten Burg führte. Er nahm die Stufen normal und schwebte noch über sie hinweg. Je höher er ging, um so mehr verschwand die Düsternis des Gewölbes, und die normale, wenn auch sehr stille Welt nahm ihn wieder auf.
Sehr bald schon hatte er den Burghof erreicht, um dort stehen zu bleiben.
Die Wärme der Sonne und das normale Licht taten ihm gut nach all dieser Finsternis. Sein Falbe hatte sich einen schattigen Platz im Schutz einer Mauer gesucht und rupfte an trockenem Gras. Das alles war so normal, aber nicht das Herz in seiner Hand.
Er schloss die Augen. Urplötzlich wusste er Bescheid. War es ein Gedanke, war es eine Stimme, jedenfalls kannte er das Ziel, in dem das Herz der Jungfrau seinen
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