1142 - Piraten-Terror
Strecke legte er stolpernd zurück. Er geriet jetzt in den vollen Schein der leicht gebogenen Türlampe und fühlte sich in diesen Sekunden wie ein perfektes Ziel für einen Schützen.
Aber auch für einen Mörder, der so verdammt nah war. In der linken Kitteltasche steckte der Schlüssel. Es war ein Fehler gewesen, ihn nicht schon vorher herauszuholen. Jetzt wäre er ihm beinahe aus den Fingern gerutscht.
Im letzten Moment hielt er ihn fest. Seine Hand zitterte, als er den Schlüssel an das Schloss heranführte.
Der Blick nach rechts!
Herbert erkannte, dass er es nicht mehr schaffen konnte. Der verfluchte Pirat war bereits zu nahe an ihn herangekommen. Er hatte seinen rechten Arm angehoben, und Herbert sah den Haken aus allernächster Nähe.
Der Schlüssel fiel zu Boden, als er sich zurückwarf. Im gleichen Moment schlug der Pirat zu.
Herberts Schrei verwehte in der Nacht. Auch seine Frau hatte ihn nicht hören können. Der Haken verfehlte ihn nur knapp, was kaum ein Vorteil war, denn Herbert stolperte über die Stufenkante und fiel nach hinten.
Be vor er sich aufrappeln konnte, schlug der Pirat zu.
Er führte den Haken von unten nach oben und erwischte Herbert mitten in der Bewegung. Die gekrümmte, scharfe Spitze durchdrang den Stoff des Kittels in Höhe der rechten Brustseite. Sie hakte sich darin fest. Colyn traf keine Anstalten, den Haken wieder zu lösen. Jetzt hing Herbert daran wie ein Stück Fleisch, und er wurde durch einen heftigen Ruck an das Monstrum herangezogen.
Er nahm den Geruch des anderen wahr. Alt und muffig, nach Verwesung stinkend. Die fremde Fratze mit der Augenklappe schwebte in seiner Nähe, und Colyn hob ihn mit einer spielerisch anmutenden Leichtigkeit in die Höhe. Der Haken sorgte dafür. Er klemmte im Knopf des Kittels fest. Herbert war nicht in der Lage, etwas zu unternehmen.
Das Monstrum legte die andere Hand wie eine Kralle um Herberts Kehle. Herbert hatte schreien wollen, aber das Geräusch erstickte schon im Ansatz.
Der Pirat drehte sich mit ihm herum. Neben der Tür wurde Herbert gegen die Hauswand gedrückt. Die kalte, knochige Totenklaue sperrte ihm die Luft ab. Die Augen traten ihm aus den Höhlen, sein Mund stand weit offen, aber er war nicht mehr fähig, Luft zu holen.
Die Gestalt löste sich vor seinen Augen auf. Schatten erschienen an ihrer Stelle. Sie krochen heran, sie waren finstere Boten, die Herbert nicht mehr aus den Klauen ließen.
Dass der Pirat den Haken löste, bekam er nicht mit. Er brach vor den Füßen des Monstrums zusammen.
Colyn bückte sich. In der Bewegung nach vorn hob er seinen rechten Hakenarm an.
Er starrte auf die Gestalt.
Um seinen Knochenmund herum zuckte es. In den Augen strahlte der Glanz jetzt noch heller.
Dann stieß er zu. Er drehte dabei den Haken, um den Hals des Mannes seitlich zu treffen.
Colyn Dolphyn hatte Routine, wenn es darum ging, Menschen umzubringen. Auch in diesem Fall ließ er sich durch nichts stören. Er hatte sein zweites Opfer gefunden, und es würden in dieser Nacht mehr, viel mehr werden…
***
»Das ist Matilda«, sagte Laura Watson mit hektisch klingender Stimme. »Dolphyns Geliebte. Und sie lebt noch, John, obwohl sie so alt ist. Aber ich glaube nicht, dass sie uns feindlich gesonnen ist. Sie hasst ihn. Sie muss ihn einfach hassen, wenn man der Geschichte glauben darf. Er hat sie nicht getötet. Ich weiß nicht warum, aber sie taucht immer auf, wenn er da ist. Ich habe sie gesehen… aber das weißt du ja alles.«
Matilda sagte nichts. Sie stand einfach nur da, als hätte man sie abgestellt und dann vergessen. Aber sie war nicht grundlos erschienen.
Wahrscheinlich hatte sie uns etwas zu sagen.
Den Strahl meiner kleinen Leuchte hatte ich bisher zu Boden gerichtet.
Jetzt bewegte ich den rechten Arm. Der Lichtkegel stieg an ihrem Körper in die Höhe und traf auch das Gesicht. Ein Mensch hätte mit den Augen gezwinkert oder wäre leicht zusammengezuckt. Matilda tat das nicht. Sie blieb einfach nur stehen. Es war auch nicht zu sehen, dass sie atmete, denn vor ihren Lippen kondensierte keine Luft.
Ein Zombie? Das musste so sein, aber ein anderer Zombie als diejenigen, die aus Gräbern krochen und Menschen töteten.
»Du musst keine Angst vor ihr haben, John«, sagte Laura. »Ich glaube, dass sie auf unserer Seite steht. Schau dir ihr Gesicht an. Ich kann darin lesen, wie sehr sie sich quält.«
»Lass mich mal.«
»Ja, gern…«
Ich senkte das Licht nicht. Das Gesicht sah aus wie das einer Toten
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