1144 - Der Rächer aus dem Morgenland
hier, John!«
Da hatte Suko die richtigen Worte gesprochen. Mittlerweile war auch ich der Ansicht, dass wir hier in der kleinen Kirche keine Chance hatten. Es musste noch einen anderen Ort geben. Möglicherweise den, wo beide - Lucy und Edward - ihr Leben ausgehaucht hatten. Möglicherweise dort, wo die alten Mauern noch standen, die einmal als stolzer Sitz derer von Estur gedient hatten.
Ich wollte noch nicht gehen und ließ den Lichtstrahl noch einmal von unten nach oben wandern. Die Gestalt des Kreuzfahrers hellte sich auf. Jede Falte der Haut war zu sehen und auch der mächtige Panzer zeichnete sich ab. Der Künstler hatte den Kreuzfahrer so geschaffen, wie er ihn kannte. Das Gesicht zeigte auch keinen Hass, nur eben den starken Willen, der diesen Mann getrieben hatte, für eine vermeintlich gute Sache zu kämpfen und in die Fremde zu fahren.
Oft genug schon hatte ich den Test mit dem Kreuz durchgeführt, um etwas herauszufinden. Das ließ ich hier bleiben. Mein Kreuz hatte sich nicht erwärmt. Es war neutral geblieben. Also konnte ich davon ausgehen, dass die Figur nichts Böses abstrahlte und auch nichts dergleichen in sich trug.
»Sollen wir gehen?«, fragte Suko.
»Ja, es bringt nichts, wenn wir hier stehen bleiben und reden. Wenn wir Estur finden, dann an einer anderen Stelle. Er ist unterwegs, das weiß ich…«
»Und er hat Peggy Shaw, John, vergiss das nicht. Du bist dabei gewesen, als er sie geholt hat. Obwohl du Wache gehalten hast, konnte er dich überraschen. Sollte dir das nicht zu denken geben?«
Ich wusste, worauf mein Freund hinauswollte. Es ging hier um mehr als um die Rückkehr aus dem Reich der Toten. Dieser Kreuzfahrer schaffte es, die Grenzen zwischen den Welten zu überwinden.
Ob er aus dem Reich der Toten gekommen war oder aus einer anderen Dimension, da war ich mir nicht schlüssig. Aber er hatte Macht. Er war gestärkt worden, und diese Stärke spielte er nun aus. Es trieb, ihn zurück zu den Orten, an denen er seine Spuren hinterlassen hatte.
Wir hatten uns umgedreht und gingen den gleichen Weg zurück. Wieder langsam und wieder so, als wollten wir niemand stören, der sich noch in der Kirche aufhielt.
An der Tür drehten wir uns beide um.
Nein, es hatte sich nichts verändert. Die Stille war geblieben. Kein fremder Laut durchwehte sie.
Kein Schreien, kein Jammern, auch kein Rufen irgendwelcher Namen.
Dennoch hatte diese Kirche eine entscheidende Rolle gespielt. Ob das jetzt noch so war, stand in den Sternen.
Suko öffnete die Tür und verließ die Kirche vor mir.
Hinter mir fiel die Kirchentür zu. Suko war schon zwei Schritte nach vorn gegangen und wartete auf mich. Er kam mir vor, als hätte er sein Gesicht gegen den Wind gedreht, um alles zu erschnüffeln, was dieser ihm brachte.
Ich sah, wie er langsam seine Hand hob. Für mich ein Zeichen, still zu sein.
Hinter ihm blieb ich stehen und wartete ab. Suko sagte noch nichts. Er stand da wie in einer lauschenden Haltung eingefroren.
Bevor ich ihn fragen und stören konnte, hörte ich es selbst. Jetzt floss bei mir ein kalter Schauer über den Rücken, denn von den Schwingen des Windes getragen wehte die klagende Frauenstimme an meine Ohren.
Sie rief immer nur einen Namen.
»Edward… Edward…«
Die Stimme hatte ich noch nie gehört. Es war auf keinen Fall Peggy Shaw, die nach dem Kreuzfahrer rief. Für mich gab es nur eine Möglichkeit.
Das musste Lucy sein!
***
Lucy - das ehemalige Bauernmädchen und zugleich die Geliebte des Kreuzfahrers. Eine Person, die schon seit Jahrhunderten tot war. Ein vermoderter Körper, nur Staub in der Erde, und trotzdem noch vorhanden. Sie war jetzt jemand in einer anderen Energieform, aber sie war zugleich eine Person, die litt.
Die Worte wehten wie ein Klagelied an unsere Ohren.
»Edward… Edward… warum hast du mich verlassen? Warum? Warum bist du nicht bei mir geblieben? Warum hast du deinen Schwur gebrochen? Warum bist du mir nicht gefolgt in das Reich der Toten? Wir haben es uns versprochen. Ich konnte keine Ruhe finden. Aber auch du nicht. Das spürte ich. Auch du bist immer auf der Suche gewesen. Dein Gewissen quälte dich. Es wusste genau, dass du einen schlimmen Frevel begangen hast. Ein Versprechen zu brechen, ist sehr schlimm, Edward. Dabei habe ich mich auf dich verlassen, aber du hast mich enttäuscht, und deine Reue ist einfach zu spät gekommen…«
Die Unbekannte und nicht sichtbare Person hatte immer lauter ihre Qual hinausgeschrieen und Suko und mich dadurch
Weitere Kostenlose Bücher