1144 - Der Rächer aus dem Morgenland
energischen Ausdruck. Diesem Mann hatte niemand so leicht etwas vormachen können. Aus den Zügen strahlte mir Willensstärke entgegen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn es sich bewegt hätte und ich plötzlich von dieser Gestalt angesprochen worden wäre.
Automatisch dachte ich an das, was mir im Krankenzimmer widerfahren war. Da hatte der Ritter das junge Mädchen entführt. Was hatte er wohl mit Peggy vor? Mir wollte einfach nicht in den Kopf, dass er sie umbrachte. Auch als Geisel passte sie nicht in die Regeln dieses ungewöhnlichen Spiels hinein.
Suko, der neben mir stand, sagte ebenfalls kein Wort und behielt das dreiteilige Schnitzbild im Auge. Auch für ihn war - ausschließlich die Figur in der Mitte interessant. So hatte der Kreuzfahrer einmal ausgesehen. Dann war er gestorben, und wiederum nicht normal tot, sonst hätte er nicht als eine Art skelettierter Zombie durch die Gegend wandern können, um Dinge zu tun, die an sein ehemaliges Leben erinnerten. Dort hatte es eine Lucy gegeben, in die er verliebt gewesen war. Hieß diese Lucy nun Peggy? Und was war mit ihr geschehen? Wie war sie gestorben? Gab es die Stelle noch, an der sie begraben war? Vor allen Dingen - wo hatte sie ihr Grab gefunden?
Wenn alles seinen normalen Vorgang genommen hätte, dann wäre von ihr nicht einmal mehr ein Stück Knochen übrig geblieben.
Suko und ich hatten schon die unwahrscheinlichsten Dinge erlebt. Wir kannten lebende Bilder, wir kannten auch steinerne Figuren, die plötzlich zum Leben erwachten. Erst vor kurzer Zeit hatte ich Ähnliches erlebt. Bei einem Grabmal, dessen Figuren aus Opfern eines verdammten Amokläufers bestanden hatten.
Tat sich hier eine Parallele auf?
Ich hörte Suko durch die Nase Luft holen. Erst dann stellte er mir leise eine Frage. »Glaubst du, dass dieses geschnitzte Bild eventuell einen Rest von Leben in sich birgt?«
Ich zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht. Das ist ein Kunstwerk, eine Hinterlassenschaft. Eine Ehre, denn diese Kirche wurde von der Familie Estur errichtet.«
»Kannst du dir vorstellen, dass Edward hier in der Nähe begraben wurde? Ich denke dabei an die Kirche hier. Oder darunter. Versteckt in einer Krypta.«
»Nein, Suko, das glaube ich nicht. Ich weiß nicht, wie er gestorben ist, aber er hat vermutlich kein Grab gehabt. Und es könnte auch mit seiner geliebten Lucy in einem Zusammenhang stehen.«
»Dass beide in den Tod gegangen sind?«
»So ähnlich.«
Er dachte eine Weile nach, dann hob er die Augenbrauen und runzelte die Stirn. Bei Suko ein Anzeichen, dass er mit bestimmten Dingen nicht fertig wurde.
»Was hast du?«
»Wenn das so einfach wäre, John. Ich denke an Abbé Bloch. Dabei frage ich mich, aus welchem Grund er dich vor dem Kreuzfahrer gewarnt hat. Wenn Bloch schon eine derartige Warnung ausspricht, verfolgt er damit ein Ziel. Er stuft den Kreuzritter als gefährlich ein. Warum tut er das? Was hat Estur aus dem Orient mit nach Hause gebracht?«
»Er hat seine Idee verraten und seinen Glauben«, erwiderte ich. »Er hat sich von der Macht und dem Wissen dieser anderen Welt einfach einfangen lassen. Er reiste als Retter des Glaubens in das Morgenland, und er kehrte als Ketzer zurück. Wir kennen sein Schicksal nicht. Ich weiß nicht einmal, ob es von jemand aufgezeichnet wurde. Aber hier…«, ich deutete auf das mittlere Bild, »… hat man ihn geehrt. Auch wenn er in den Augen der Menschen eine Verfehlung beging, indem er sich als ein Estur mit einem Bauernmädchen einließ. Einen größeren Frevel konnte man kaum begehen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Er muss diese Lucy wahnsinnig geliebt haben.«
Suko stimmte mir durch sein Nicken zu und stellte gleich darauf eine Frage. »Ist diese Liebe jetzt vorbei?«
»Nein. Er hat sie nur auf eine andere Person übertragen. Es würde mich nicht wundern, wenn die junge Peggy sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit dieser Lucy aufgewiesen hätte. Wahrscheinlich ist er all die Jahre, als er keine Ruhe fand, immer auf der Suche gewesen, und jetzt endlich hat er es geschafft, jemanden zu finden, den er mit Lucy in Verbindung bringen konnte. Eben Peggy. Zudem hat sie sich gegen die Aufdringlichkeiten ihres Freundes gewehrt, was ihm sehr entgegenkam. Wie wir wissen, hat er die Moral und die Sitte stets an die erste Stelle gestellt. Da konnte ihm Peggy gut gefallen.«
»Ein Skelett und ein Mädchen.« Suko war ärgerlich. »Ich wüsste verflixt gern, wie es Peggy geht.«
»Wir werden sie finden.«
»Nicht
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