1144 - Der Rächer aus dem Morgenland
in ihren Bann gezogen. Wir blickten uns an.
»Das ist Wahnsinn«, flüsterte mein Freund. »Aber wir wissen jetzt, wie es sich abgespielt hat. Er hat Lucy reingelegt, verstehst du? Er hat sie einfach sitzen lassen. So groß kann die Liebe nicht gewesen sein.«
»Liebe bis in den Tod«, sagte ich leise.
»Ja, aber nur für sie. Er hat sein Versprechen gebrochen. Er wollte leben und sie loswerden. Sie ist für ihn gestorben, weil sie an ihn geglaubt hat. So sind dann die anderen Dinge letztendlich doch stärker gewesen. Sie waren beide Menschen, John, und die Menschen sind eben nicht perfekt. Es hat schon immer Verrat und Lüge gegeben. Hier hat keiner gewonnen. Niemand fand seine Ruhe. Weder der Verräter noch die Betrogene, und nun muss Schluss gemacht werden, bevor alles wieder von vorn anfängt, denn Estur hat eine neue Lucy gefunden.«
Als Suko schwieg, konzentrierte ich mich wieder auf die Umgebung. Die Stille war nicht wieder zurückgekehrt, denn es gab Lucy weiterhin. Nur rief sie nicht mehr das Gleiche. Ihre dünnen Worte bewiesen uns, dass sie sich auf der Suche befand. Sie wollte nicht aufgeben und rief immer wieder mit ihrer klagenden Stimme.
»Ich finde dich. Ich spüre, dass du nicht weit von mir entfernt bist. Du kannst dich nicht verstecken, Edward. Du hast mir einmal die Treue geschworen und sie dann gebrochen. Im Gegensatz zu dir werde ich mich daran halten. Deshalb werde ich dich auch finden. Hier oben ist unser Platz. Hier haben wir uns die Versprechen gegeben«, wehte es noch einmal an unsere Ohren.
Suko nickte leicht. »Die Kirche meint sie damit nicht«, sagte er mit leiser Stimme. »Es gibt nur eine Möglichkeit, und das ist die Ruine. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich dort treffen. Da haben sich die beiden den Schwur gegeben - oder?«
Ich nickte. »Ja, so wird es gewesen sein.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Die Ruine war plötzlich in den Mittelpunkt gerückt. Ich blieb trotzdem noch stehen, um die klagende Stimme zu hören.
Es gab sie nicht mehr.
Nur der Wind umwehte unsere Ohren.
»Ja, die Ruine«, murmelte ich und setzte mich in Bewegung. Für mich war sie plötzlich zu einer Freilichtbühne geworden, auf der sich der letzte Akt des Liebesdramas abspielte. Genau den wollten wir beide nicht verpassen…
***
Peggy Shaw lebte noch, aber sie war kein Mensch mehr. Sie hatte mehr das Gefühl, zwischen dem normalen Dasein als Mensch und dem in einer anderen, für sie nicht nachvollziehbaren Existenz zu wechseln. Mal kam sie sich vor, als hätte sie ihre Füße auf den Boden gesetzt, dann wieder schwebte sie über ihn hinweg, und es blieb immer nur einer an ihrer Seite, von dem sie sich angezogen fühlte und vor dem sie sich gleichzeitig fürchtete, weil sie in eine Aura hineingeraten war, die einfach ihr Begreifen überstieg.
Als Kind hatte sie viele Geschichten gelesen und war immer von denen fasziniert gewesen, die in anderen Welten und Zeiten spielten. Da war alles so einfach gewesen, weil die Gesetze der normalen Welt nicht mehr vorhanden waren.
Immer wieder hatte sie sich von der Geschichte eines Lewis Carroll faszinieren lassen, dessen Heldin, die kleine Alice, das Wunderland hinter ihrem Garten entdeckt hatte.
Und wie Alice kam sich Peggy in diesem Fall auch vor. Was sich in ihrer Umgebung abspielte, das waren eben Wunder, denn logisch erklären konnte sie sich die Vorgänge nicht.
Jemand hatte sie an die Hand genommen, der kein Mensch mehr war. Ein Skelett in einer Rüstung, das trotzdem menschlich dachte und auch einen sehr menschlichen Weg ging.
Mit seiner Fistelstimme hatte er ihr von einem Ort erzählt, der für ihn wichtig war. Dort hatte er einer jungen Frau schon einmal seine Liebe gestanden. Da hatten sie sich ein Versprechen gegeben, und Peggy kannte auch den Namen der Person.
Sie hieß Lucy und musste sehr schön gewesen sein. Jedenfalls hatte er ihr das mehrmals gesagt. Nur hatte er sein Versprechen nicht halten können, im Gegensatz zu ihr.
Er war in ein fremdes Land gezogen, war in Gefangenschaft geraten, und im Kerker war ihm klar geworden, dass die Welt nicht nur aus einem sichtbaren Teil bestand. Ein Mitgefangener hatte ihn in gewisse Geheimnisse eingeweiht und von einem Dämon gesprochen, der Gott und Götze zugleich war. Genau das Richtige für einen Templer. Er hieß Baphomet, und ihm hatte sich Edward versprochen. Er wollte alles für ihn tun, wenn er aus dem Kerker entkam und nicht mit abgeschlagenem Kopf in einer Leichengrube
Weitere Kostenlose Bücher