1145 - Das Haus der Selbstmörder
gemacht. Wer hier lag, der hatte nie im Leben eine Lobby gehabt, die sich für ihn einsetzte.
Für mich war es eine negative Wunderwelt. Ich sah vieles und trotzdem nichts. Das richtige Geheimnis blieb meinen Augen verborgen.
Aber ich sah Kessler!
Es hatte sich doch gelohnt, den Weg zu gehen. Wie ich war er durch das Fenster gesprungen, aber nicht so gut und sicher auf dem Boden gelandet. Der Aufprall hatte ihn hingeschleudert, so dass er jetzt auf der Seite lag, nicht weit von einem Grabstein entfernt, dessen Vorderseite fast mit seinen Haaren abschloss.
Neben Kessler blieb ich stehen und schaute auf ihn nieder. Die Augen hielt er halb geschlossen.
Seine Hände waren leicht geöffnet und bildeten halbe Fäuste. Ob er lebte, war auf den ersten Blick nicht festzustellen, deshalb bückte ich mich, um seine Augen besser sehen zu können.
Es war auf dem alten Friedhof nicht richtig hell und auch nicht dunkel. In meiner Umgebung herrschte ein ungewöhnliches Licht von unbestimmter Farbe. Da mischten sich verschiedene Grautöne ineinander. Die Helligkeit reichte trotzdem aus, so brauchte ich nicht meine Lampe hervorzuholen, um das Gesicht der Gestalt anzustrahlen.
Lag Glanz in den Augen?
Nein, sie sahen so leer aus, so tot. Bewegungslos wie die gesamte Gestalt. Ich wünschte mir nicht, dass er tot war, aber ich wollte es genau wissen. Fühlte nach dem Pulsschlag, konnte jedoch keinen spüren. Für mich lebte der Mann nicht mehr.
Ich täuschte mich.
Schon halb abgewendet, nahm ich die Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Kessler hatte sich leicht gedreht und hob nun den rechten Arm an.
»Jack!«, entfuhr mir sein Name.
Er hatte mich gehört. Es war jetzt in den Augen zu erkennen, denn sie füllten sich wieder mit dem Glanz einer lebenden Person. Kessler war aus seinem komaähnlichen Zustand erwacht, aber wusste noch nicht, wo er sich befand, das erkannte ich ebenfalls in seinen Augen. Er schaute verwundert, doch Schmerzen schien er nicht zu haben.
»Jack…«
Nachdem ich seinen Namen zum zweiten Mal ausgesprochen hatte, reagierte er. Er ließ seinen Blick nicht von meinem Gesicht, und ich sah bei ihm, wie das Erkennen zurückkehrte.
»Was ist los?«, fragte er.
»Erinnerst du dich?«
»Nicht direkt!«, hauchte er.
»Du kennst deinen Namen.«
»Ja, ich bin Jack Kessler.«
»Das ist gut. Kannst du dich auch daran erinnern, was mit uns beiden passiert ist? Du weißt, wer ich bin…?«
Da hatte ich ihm eine Frage gestellt, an deren Antwort er zu knacken hatte. Er überlegte, und ich wollte es ihm nicht zu schwer machen, deshalb nannte ich ihm meinen Namen.
Hätte er nicht gelegen, er hätte wohl genickt, denn im Ansatz war eine ähnliche Bewegung zu erkennen. »Ja, ich denke schon, dass ich es weiß. Ich habe dich holen lassen. Ich wollte nicht zu den Toten, die mich riefen. Ich habe es gehasst. Ich hörte ihren Ruf immer und immer wieder in den Nächten. Und wo bin ich jetzt?«
Ich wollte ihm durch die Wahrheit keinen Schock versetzen. »Es reicht, wenn wir zusammen sind, Jack. Wir haben es beide geschafft, zu überleben, nachdem wir durch die Öffnung und in das Licht hineinsprangen.«
Seine Antwort bewies, dass er wieder voll da war. »Dann können wir uns nur auf dem Friedhof befinden, wo auch die anderen Toten hingelangt sind.«
»Leider.«
Sein Gesicht erstarrte zur Maske. Ihm war die gesamte Tragweite bewusst geworden. Er wollte sich aufrichten, aber ich drückte ihn wieder sanft zurück.
»Keine unnötige Qual, Jack. Bleib liegen. Ich schaue mich um und suche nach einem Ausweg.«
Seine Gesichtszüge erschlafften, als er leise fragte: »Wonach willst du suchen?«
»Nach einem Ausweg!«
Sein Lachen hörte sich fast an wie der Klang einer Peitsche. »Unsinn, John, es gibt keinen Ausweg. Nicht von dieser Welt weg. Nein, wir sind gefangen und werden hier auch elendig verrecken, das schwöre ich dir. Warum sollte es uns besser ergehen als den anderen? Wir sind die Verfluchten des Schicksals. Wie auch so viele Menschen vor uns. Das hier ist unser Grab, und es ist ein besonderes.« Er verstummte und rollte sich mühsam zur Seite. Diesmal ließ ich ihn. Er sollte erkennen, dass er auch aus eigener Kraft hochkommen konnte.
Sein Schrei alarmierte mich. Er hatte sich wieder auf die Seite gedreht, und etwas musste ihm so grausam mitgespielt haben. Das Gesicht war schmerzverzerrt. Er drehte den rechten Arm und fuhr mit einer Hand über seinen Rücken.
Es war grauenhaft.
Dort bewegte sich etwas.
Rot und
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