1148 - Der Butler
die Stille hinein und fand, dass es nicht so ruhig war, wie er es sich vorgestellt hatte. Es gab durchaus Geräusche, die er hörte.
Sie waren ihm nicht fremd. Da tropfte irgendwo Wasser zu Boden, da raschelte mal etwas oder knackte leicht. Geräusche, die tagsüber überhört wurden. In der Nacht allerdings kamen sie Chris doppelt so laut vor, und er fühlte sich heimlich beobachtet.
Erst als der Butler seinen Helm abnahm, stieg auch er vom Roller. Er bewegte sich steif. Fing auch an zu frieren und schaute sich scheu in der Umgebung um.
Edward hatte seinen Helm wieder auf den Sitz gelegt. Er strich sein schwarzes Haar glatt und richtete den Blick auf Chris. »Nun, kennst du dich aus?«
»Weiß nicht, ich…«
»Du solltest dich aber hier auskennen, mein Freund. Schließlich liegt hier dein Großvater begraben.«
Chris senkte den Kopf.
Der Butler lachte. »Wie oft bist du am Grab deines Großvaters gewesen, Chris?«
»Nicht sehr oft.«
»Einmal?«
»Ja.«
»Und das war bei der Beerdigung - oder?«
»Ja.« Mehr konnte er nicht sagen. Er wollte auch nicht in das Gesicht des Butlers sehen, denn es war ihm unmöglich, diesem bohrenden Blick auszuweichen. Chris fühlte sich wie ein Sünder, der nun angetreten war, um seine Schuld zu büßen.
»Du solltest dich schämen, Junge. Gerade du. Die anderen Mitglieder deiner Familie auch. Aber dein Großvater hat gerade an dir so sehr gehangen. Du bist sein Ein und Alles gewesen. Das hat er mir immer wieder gesagt. Du hast dich abgewendet, auch von deinem Großvater, der dir in Liebe und Treue verbunden war. Du bist dem sicheren Schoß entwichen. Warum?«
»Ich… ich… wollte ein anderes Leben führen. Ich konnte diese ganze Tuerei und Unehrlichkeit nicht ertragen. Es kotzte mich an. Ich musste einfach weg.« Er hatte bei der Antwort zu Boden geschaut und die Worte nur geflüstert.
Der Butler legte Chris eine Hand auf die Schulter. »Du hast deinen Großvater sehr enttäuscht, Junge. Sehr sogar. Das hat er nicht verdient. Tut mir leid.«
»Ich konnte doch nicht anders. Ich kam nicht dagegen an. Das ist mein Inneres gewesen. Ich… ich… konnte doch nicht über meinen eigenen Schatten springen.«
»Dein Großvater war anders. Er hat es dir auch gesagt! Sieh mich an, wenn ich mit dir rede und steh nicht da wie ein armer Sünder, obwohl du dazu allen Grund hättest.«
Chris hob den Blick. Der Butler stand vor ihm. Erst jetzt merkte er, wie groß Edward war. Darüber hatte er früher nicht nachgedacht. Er kam ihm nicht eben wie ein Riese vor, aber diese Gestalt im offen stehenden Mantel war schon Respekt einflößend. Im Gesicht regte sich kein Muskel. Dunkle Augen schauten auf Chris herab, der dem Blick nicht ausweichen konnte.
Diese Augen lebten nicht, Sie waren starr. Irgendwie auch tot und trotzdem grausam.
Die hohe Stirn. Dazu das lange Gesicht. Das schmale Bärtchen über der Oberlippe, all die Dinge, die auf Fremde oft einen arroganten Eindruck machten, hatten bei Chris nicht diese Wirkung. Er hatte einfach nur Angst vor der Gestalt, die seinem verstorbenen Großvater so treu gedient hatte und ihm auch im Tod noch immer diente.
Durch den offenen Mund holte er Luft. Er musste etwas tun, auch wenn es nur ein schweres Einatmen war. Sein Blick irrte jetzt an Edward vorbei, er schaute auf den großen Grabstein und die dunkle Erde um ihn herum.
Dort also lag sein Großvater, dessen Lieblingsenkel Chris immer gewesen war.
Harold Ogden hatte ihn das auch immer spüren lassen. Wenn es Ärger gegeben hatte, war es sein Großvater gewesen, der ihn in Schutz genommen hatte. Bis zu seinem Tod.
»So, Chris«, sagte der Butler, »jetzt wirst du an das Grab treten und deinen Großvater begrüßen.«
Chris schrak zusammen. »Bitte, was soll ich?«
»Ihn begrüßen.«
»Hä, hä…« Er lachte, obwohl ihm nicht danach zumute war. »Ich soll einen Toten begrüßen?«
»Ja.«
»Aber…«
»Kein Aber, Chris!«
Dieser eine Satz reichte aus, um den Widerstand des jungen Mannes zu brechen. Das zeigte sich bei ihm auch körperlich, denn er nahm wieder eine devote Haltung ein, senkte den Kopf und nickte.
Den Weg kannte er. Chris fühlte sich schlecht, als er die wenigen Schritte ging. So wie er musste sich ein Delinquent fühlen, der zur Hinrichtung gebracht wurde.
Vor dem Grab blieb er stehen. Er konnte jetzt direkt auf die vordere Seite des Steins schauen. In ihn waren die persönlichen Daten des Großvaters eingemeißelt worden. In der Dunkelheit waren sie nicht
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