1148 - Der Butler
zu erkennen, aber Chris kannte sie auswendig. Harold Ogden war 85 Jahre alt geworden und hätte sicherlich noch weitergelebt, wenn ihn nicht plötzlich ein Herzschlag erwischt hätte. Zumindest nahm man das an. Es gab Personen in der Familie, die daran zweifelten, doch darüber hatte sich Chris keine Gedanken gemacht.
Seine Augen hatten sich längst auf die Sichtverhältnisse einstellen können, und so war es ihm möglich, auch einige Einzelheiten zu erkennen. Die Erde auf dem Grab war feucht und nicht glatt. Sie wirkte wie locker geharkt. Auch einige Steine lagen auf der Oberfläche, als hätte sie jemand dort hingeworfen.
Der Butler war dicht an Chris herangetreten. »Hier liegt er also«, sagte er.
Chris hob die Schultern. Er wusste nicht, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte. Er wollte vor allen Dingen nicht reden, denn jedes Wort konnte ein falsches sein.
»Spürst du die Scham, Chris?«
»Weiß nicht.«
»Du solltest dich aber schämen.«
»Ich habe nie darüber nachgedacht.«
»Dein Großvater hat dich geliebt. Er hat mir immer gesagt, dass der Kontakt zwischen euch nie abbrechen würde, auch nach seinem Tod nicht. Er hat damit gerechnet, dass du zu seinem Grab kommen würdest, weil er dir noch vieles hat sagen wollen. Aber du bist nicht gekommen, du hast ihn enttäuscht. Und mich auch. Deshalb hat er mir den Auftrag gegeben, dich herzubringen.«
Chris war ein junger Mensch, der in den letzten beiden Jahren schon einiges hinter sich hatte. So leicht konnte ihn nichts erschüttern. Auch jetzt hatte er seinen ersten Schrecken verloren und sich etwas an die Szenerie gewöhnt. Was ihm der Butler gesagt hatte, wollte ihm nicht so recht in den Kopf. Er konnte es nicht glauben, und er wandte sich mit einer langsamen Bewegung nach rechts, um noch einmal bei Edward nachzufragen.
»Bitte, ich habe dich wohl nicht richtig verstanden. Mein Großvater hat dir den Auftrag gegeben?«
»Ja, so war es.«
Chris wunderte sich wieder, dass er lachen konnte. Auch diesmal klang es nicht fröhlich. »Aber das ist nicht möglich. Mein Großvater ist tot. Das wissen wir beide.« Er streckte seine Hand aus. »Er liegt hier unter der Erde.«
Edward lächelte spöttisch. »Du bist noch jung, Chris. Aber du solltest dir schon jetzt merken, dass nicht alles tot ist, was man für tot hält…«
»Wieso? Das… das verstehe ich nicht.«
»Manche sind tot und leben trotzdem.«
Chris lauschte der Antwort nach. Er dachte daran, was ihm in dieser Nacht schon widerfahren war.
Wenn er sich das durch den Kopf gehen ließ, da war sein bisheriges Weltbild erschüttert worden. Er dachte an Edwards Hand, er dachte auch an die Kugellöcher in dessen Brust, und plötzlich hatte die letzte Bemerkung des Butlers viel mehr Bedeutung für ihn.
»Wieso nicht tot?« fragte er trotzdem.
»Ich bitte dich, Chris. Wenn etwas nicht tot ist, dann lebt es.«
Für die Dauer einiger Sekunden hallte die Antwort durch den Kopf des jungen Mannes. Er war kaum in der Lage, die richtigen Schlüsse zu ziehen und suchte sich seine Antwort zusammen.
»Nicht tot«, flüsterte er vor sich hin. »Das kann ich nicht glauben. Wenn das stimmt, dann müsste er noch leben?«
»Jetzt hast du es erfasst!«
Chris Ogden duckte sich wie unter einem Schlag. Plötzlich schien der Boden zu schwanken, auf dem er stand. Er spürte den Schwindel, er kämpfte dagegen an und sah, wie sich das breite Grab wellte. Horrorvisionen drangen in seinen Kopf. Es war einfach grauenhaft. Er dachte an die Filme, die er gesehen hatte. Dort waren die Toten aus den Gräbern gestiegen. Das war natürlich alles nicht echt gewesen. Irgendein Hirn hatte sich das einfach ausgedacht. Mit der Realität hatte das nichts zu tun, und deshalb konnte er es nicht glauben.
»Nein, Edward, nein…«
»Du musst noch einiges lernen, junger Mann. Manchmal liegen Tod und Leben so dicht beisammen, dass man sie nicht trennen kann. Es tut mir leid, dass ich dir das sagen muss. Ich habe dich nicht überzeugen können, aber ich sage dir ehrlich, dass du es bald erleben wirst. Dein Großvater will es so.«
Chris zitterte. Er war kaum noch fähig, auf das Grab zu schauen. Er stellte sich vor, wie es plötzlich aufbrach und ein mit Dreck und Lehm beschmiertes Skelett ins Freie kletterte. Würmer und Maden, die in den Augenhöhlen krochen. Spinnen, die aus dem Mund drangen und an den schmutzigbleichen Knochen nach unten krabbelten.
Das war der blanke Horror. Das war einfach nicht zu fassen, und das
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