116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
diesem Sonntag herrschte außergewöhnlich großes Gedränge in der Kirche. Kein Platz mehr frei, schwüle Hitze, die Menge ungewohnt laut, immer wieder kam Gemurmel auf, man drehte sich um, weil der Nebenmann sich umdrehte, auf diese Weise entstanden Wellen, die sich fortsetzten, bis sie durch dieselben Gesetzmäßigkeiten wieder abebbten, ein menschliches Wogen, das jeden Teilbereich des Kirchenschiffs erreichte. Man trat von einem Fuß auf den anderen, die Gesten, die hastigen Bewegungen verrieten Nervosität. Die Kirche war zum Bersten gefüllt mit Menschen und mit Ungeduld. In den Köpfen tanzten Gewissheiten, darüber tanzte der Staub. Bald würde in diesem Dorf dieses sich im Krieg befindenden Landes gefeiert werden. Die unruhig tänzelnde Menge, dieser Wald aus verrenkten Hälsen, die Kinder, die auf ihre Eltern warteten, welche ebenfalls warteten, die müden, alten Weiber, die trotzdem da waren, die ganze Gemeinde war versammelt und weit mehr. Es gab Uniformen zu sehen, wichtige Persönlichkeiten, goldene Stickereien auf den Mitren, Chorkinder mit rosigen Wangen. Alle hatten beim Betreten die neuen Wagen auf dem Vorplatz mit ihren vatikanischen Nummernschildern bemerkt, die von der örtlichen Polizei bewacht wurden. In der Kirche wäre einem, sofern man die Möglichkeit gehabt hätte, von oben einen Blick auf das Publikum zu werfen, auf die senkrechten, schwankenden Körper, sogleich die Trennlinie zwischen den Reihen aufgefallen. Die ersten beiden waren noch leer, dort würden die Bekehrten Platz nehmen. Die beiden folgenden unterschieden sich vom Rest der Anwesenden durch langsamere Bewegungen, durch dunklere, schwarze Stoffe, ein Schwarz von ungekannter Intensität, grelle, leuchtende Lichtreflexe. Diese beiden Reihen gehörten den Herrschern über das Gebiet, herausgeputzt und mit allen notwendigen Insignien behängt. Direkt oder indirekt waren diese in ihrer Bedeutsamkeit badenden Männer, diese Militärs mit ihren glänzenden, nach hinten geklebten Haaren, ihren wie Friedhofsmarmor glänzenden Mützen auf den Knien allesamt in die Gefangenschaft der Chinesen in Tossicia verwickelt. Sie waren es, die sie beaufsichtigten, die über Verlegungen und Essensrationen entschieden, die sie in Lastwagen steigen ließen. Sie waren es auch, die das magere Taschengeld an sie austeilten, das die Regierung ihnen zubilligte. Diese Leute mit ihren toten Ansteck-Sternen waren es, die entweder selbst oder deren Komplizen oder Untergebene die Abschirmung konkret überwachten. Der Areopag war zu dieser Taufe wie zu einer Vorstellung erschienen, bei der die wilden Tiere ausnahmsweise in den Zuschauerrängen der Arena saßen, satt in ihrem blutigen Schweigen, und sich unter die Bevölkerung der Umgebung mischten, die sie kennen und fürchten gelernt hatte. Und wo man schon mal dabei war, ausgiebig vom Schmutz zu kosten, würde man sich auch noch dazu herablassen, den Chinesen ein paar aufmunternde Worte und ein kräftiges Schulterklopfen zu spendieren, in dem Wissen, dass am Ende des Tages alles wieder an seinen Platz und die Chinesen in ihre Schlafsäle zurückkehren würden. Diesen Chinesen, die im Nachbardorf fest- oder in Gefangenschaft saßen, würden sie nicht viel mehr zugestehen als einen Tag Leben unter freiem Himmel.
Die Feierlichkeit nahm ihren Lauf. Der apostolische Nuntius, soeben aus Rom eingetroffen, nahm in vollem Ornat Platz, und sein Erscheinen rief nervöses Schweigen hervor. Dann ergriff er das Wort, und Tchang übersetzte es den seinen, die auf seltsame Weise auch Zuschauer waren. Anschließend folgte ihre Antwort in Form eines Gebetes auf Chinesisch, das niemand wirklich zu verstehen versuchte, alle gingen davon aus, dass es sich um eine Art Gelübde handelte. Das war alles, was an diesem Tag, an dem sich alles um den äußeren Schein drehte, von ihnen verlangt wurde. Dann verlas der Nuntius noch einen Brief des Staatssekretärs Seiner Heiligkeit, was einerseits deutlich machen sollte, welche Bedeutung der Vatikan diesem Tag zumaß, andererseits die Zuschauer beeindrucken sollte und, nicht zuletzt, auch dazu diente, dezent auf die Überlegenheit über die anderen anwesenden Mächte hinzuweisen. So wurde jenen, die in der Casa Mirti und der Casa Fabi und später zwischen den Steinen des Camerone verwahrt wurden und bei denen es sich um die gleichen Personen handelte, die einer nach dem anderen voller Angst eingetroffen waren, der eine eines Abends im Nieselregen, der andere in gleißendem Sonnenlicht,
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