116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
einmal die Erklärung für jenes Umhergehen in Isola, jene Stunden des Umherirrens, des Suchens in der Umgebung von Isola und von San Gabriele: Dieser lebenswichtige Drang, sich zu bewegen, war eine verbissene Suche nach der angehaltenen Zeit. Tossicia war die Schwelle gewesen, dort hatte die niederträchtige Klammer begonnen, innerhalb derer die Zeit der Chinesen abgeschafft gewesen war und in der das Vermessen des Raumes mit den Schritten ihre einzig mögliche Form von Widerstand gewesen war, ihr einziges Mittel, um im Grenzbereich des dumpfen Krieges auf die Wunde, welche der Zeit, die sozusagen die Luft anhielt, beigebracht worden war, einzuhämmern.
Sie waren kurz davor, aus diesem Leben unter der Glocke herauszutreten. Sie waren noch ein bisschen weiter gegangen als jemals zuvor und gelangten so wieder an die Pforten zu den Windböen außerhalb davon. Sie würden ihre inneren Qualen hier ablegen, die körperlichen Qualen und die ihrer Erinnerung. Sie würden sich, das spürten sie mit verstörender Gewissheit, unverzüglich diesen neuen Qualen überlassen, dieser Erosion der Welt, wo die Unwetter endlich an ihrem eigentlichen Platz wären, nämlich außerhalb der Menschen, in dem Raum zwischen ihnen. Hier stand das, was die Menschen quälte, wenigstens vor ihnen. Es galt, wieder zu lernen, wie man dort lebte. Wieder zu lernen, vor etwas anderem Angst zu haben als vor den Höhlen im eigenen Inneren, Angst vor der Schwärze, die ihnen im Halse hochstieg. Sie mussten auch wieder lernen, mit der wiedergefundenen Unmittelbarkeit der Welt umzugehen, einer anderen Welt als der, in der das langsame auf der Stelle-Treten ihres Geistes die gleichen harmlosen und ruhigen Formen annahm wie die Felder von Isola oder der Sonnenuntergang hinter San Gabriele. Sondern im Gegenteil eine Welt, in der die mörderischen Triebe des Krieges sich endlich als das zeigten, was sie waren, ohne die schädliche Fassade der Verbannung und der Isolation. Wenn sie an Tossicia vorübergingen, dann würde es geschehen, ein paar Meter, die sie unwiederbringlich mit allen Bruchteilen des Schmerzes in Kontakt bringen würden, die der Krieg in sich barg. Es würde keine sichtbaren Anzeichen geben, keinen Augenblick lang, es gäbe keine Spur am Boden, an der man es würde festmachen können. Sie hatten lediglich beschlossen, aus einem Kreis herauszutreten, der weniger eine Linie irgendwo zwischen Isola und Tossicia als vielmehr eine Grenze war, die ihre Resignation von dem unendlichen Bedürfnis abtrennte, sich wieder auf all die brennenden Schmerzen einzulassen, sowohl auf die, welche von Kugeln, Waffen, Schreien hervorgerufen werden, als auch und vor allem auf die anderen, die schönen, Zeit, vollständige Träume, neuerlicher Aufruhr in ihrem Innern. All diese brennenden Gefühle zogen sie an, aber fast genauso oft stießen sie unvermittelt darauf. Sie allein konnten ihre Flucht erklären, ihren Gang durchs Gebirge, ihre Nächte im Schutz der Verstecke der italienischen Patrioten, sie allein waren der Grund dafür, dass sie hatten verschwinden können, ohne sich noch einmal nach San Gabriele umzudrehen. Ohne ein letztes Wort zu den Patern. Noch nicht einmal zu Tchang. Ohne einen letzten Blick für jene Frau, die.
Sie waren sich einig, einen Bogen um das Dorf zu machen und einen Umweg durch den Wald unterhalb davon zu gehen. Wenn sie sich in die Nähe einer so kleinen Ortschaft begeben hätten, wären sie zu verdächtigen Bewegungen im Blätterwerk geworden und Gefahr gelaufen, dass möglicherweise ein Kind sie erblickte, spontan aufschrie und damit, ohne es zu wollen, ihre Anwesenheit verraten hätte. Aus einer Menge verschiedener Gründe also umgingen sie Tossicia weitläufig. Es war nur ein Umweg von wenigen Minuten, um unbemerkt am Dorf vorüberzugehen.
Es dauerte nicht lange, schon standen sie der Geschichte und der hereindrängenden Welt direkt gegenüber. Etwas kam näher, da war etwas, eine Anwesenheit. Zuerst ein paar Geräusche im Unterholz. Gleich darauf war die Geschichte ein Schweißtropfen, ein schneller werdender Puls, ein Muskel, der angespannt war. Die Chinesen des Waldes erstarrten und spürten, dass sie nicht allein waren, es kam ihnen so vor, als hätte der nahe Waldrand Späher auf ihre Spur geführt. Sie blickten sich an, als könnte es das letzte Mal sein. Welches letzte Bild, das eines ruhigen Baumes, das von feuchtem Moos, würde die Truhe ihrer Erinnerung versiegeln, kurz bevor sie ihren allerletzten Augenblick
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