116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)
nach der anderen erschüttert. Nach eineinhalb Jahren, in denen man sich ihre Schockstarre zunutze gemacht hatte, um sie in Schach zu halten, war der bloße Gedanke fortzugehen für jeden von ihnen abstrakt geworden. Doch diese Kartenhäuser stürzten ein. Von diesem Einstürzen waren nicht nur Steine betroffen oder Menschen, sondern auch eindeutige Tatsachen, die noch bis vor kurzem den Rhythmus der zeitlosen Tage bestimmt hatten. In diesen Stunden, als jeder, Truppen, Milizen, sich auf Ziele konzentrierten, die um ein Vielfaches konkreter waren, wurde deutlich, wie betrügerisch und grausam es war, sie nur um einer wohlfeilen Demonstration von Autorität willen unsinnigerweise an einem Ort festzuhalten. Das Lager fiel auseinander, was nicht bedeutete, dass es sich vollständig leerte, aber es konnte sie einfach nicht mehr alle zurückhalten. Während ein paar dutzend Gefangene, von den Ereignissen völlig überrumpelt, noch einige Zeit im Kloster blieben, entwischten mehrere Gruppen daraus, denn da war keine Hand mehr, um sie zurückzuhalten. Sie machten sich grüppchenweise auf den Weg. Eines Morgens waren die unsichtbaren Ketten, die sie festgehalten hatten, einfach nicht mehr da, also gingen sie fort. Der Sektor war zwar immer noch faschistisch, hatte aber Risse bekommen, und an einem Septembermorgen lag das sich darin befindende Lager auf einmal hinter ihnen, wich zurück. Sie drehten sich nicht um und sahen es nie wieder.
Im Moment ihrer Flucht wurden sie zu Kriegsteilnehmern. Natürlich verstanden sie das nicht sofort. Und eigentlich wollten sie auch nicht kämpfen, doch es zeichnete sich ein möglicher Ausweg ab. Die Verwirrung an der Spitze des Staates hatte ihr Maximum erreicht. Es hatte so ausgesehen, als wäre Mussolinis Faschismus erfolgreich beseitigt worden, dann aber war der Duce aus Deutschland zurückgekehrt und hatte im Norden die Republik von Salò gegründet, und die deutschen Truppen fielen in Italien ein, nachdem der Generalstab es zur Kriegszone erklärt hatte. In Isola waren Botschaften von Mund zu Mund gegangen, in denen es sich um ein bald in der Region stattfindendes Treffen drehte, bei dem sich alle gegen den vorstoßenden Feind zusammentun würden. Der Aufruf ging von einem aufständischen Partisanenkomitee in Teramo aus, das sich um Mario Capuani, den Arzt und Gründer der Aktionspartei von Teramo, Ercole Orsini, den Chef der geheimen kommunistischen Partei, und den Beamten Adelchi Fioredonati herum gebildet hatte. Dieses Komitee war ein lokaler und spontan entstandener Abkömmling vom nationalen Befreiungskomitee, dem zentralen Organ der italienischen Antifaschisten, das bereits am 9 . September, einen Tag nach dem Waffenstillstand, in Rom gegründet worden war, und es rief Freiwillige in der gesamten Region dazu auf, zu den Waffen zu greifen und sich in den Laga-Bergen einzufinden, in der Gemeinde Rocca Santa Maria in der Nähe des Weilers Ceppo. Das Ziel, das die Menschen sich zuflüsterten, lautete Ara Martese.
Als sie von diesem geheimen Aufruf zur Versammlung hörten, war das ihr Bruch gewesen. Entgegen jeder Logik, auf einem Weg, den Worte schlecht erklären können, waren sie diesem Aufruf zuvorgekommen. Als Gefangene hätten sie eigentlich nichts davon erfahren dürfen. Als Fremde hätten sie ihn eigentlich nicht verstehen und sich erst recht nicht angesprochen fühlen dürfen. Aber jene geflüsterten Worte, die von einem Ohr zum nächsten gewandert waren, bis sie sie erreicht hatten, die Worte dieses Aufrufs hatten alles in Frage gestellt. Sie hatten nicht alle Einzelheiten verstanden, aber ihnen war klar, was auf dem Spiel stand: Das Land war führerlos, die im Süden gelandeten Alliierten kamen rasch voran, der Bewegungskrieg fing wieder an. Unter Verwendung der Informationen, die jeder von ihnen aus seiner eigenen Geschichte mitgebracht hatte, aus den Städten, in denen sie gelebt hatten, bevor man sie einen nach dem anderen geangelt hatte, hatten sie sich eine konfuse Geographie zusammengestückelt, in der sich das Land der Abruzzen in der Mitte Italiens befand, von Rom nur gerade eben getrennt durch die Apenninen, mit seinem Wachturm, dem Gran Sasso, der zwischen die Hämmer der Alliierten und den deutschen Amboss geraten war. Das genügte, um zu begreifen, dass die Region einer der Hauptorte der Vernichtung sein würde. Aufgrund dieser intuitiven Vermutungen war ihre Flucht notwendig geworden, um an jenem Krieg teilzunehmen, der niemals der ihre gewesen war, und
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