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116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

116 Chinesen oder so: Roman (German Edition)

Titel: 116 Chinesen oder so: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Heams-Ogus
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erlebten? Derlei Gedanken hatte man gegen seinen eigenen Willen, denn in dem Augenblick fühlte es sich für sie so an, als würden sie in eine große Leere hineingezogen. Die Geräusche kamen näher. Tiergeräusche, vielleicht ein Mensch. Das üppige Unterholz hielt die Antwort geheim und nahm die Formen an, die die Angst hatte. Sie standen nicht sehr lange still. Dann zeigte sich die Angst und wurde im selben Augenblick schon wieder zerstreut. Zuerst eine Hand, dann ein Arm, der die Zweige eines Busches auseinanderschob, dann erschien eine Frau. Sie trug ein Kind auf dem Arm. Als sie sie erblickte, veränderte sich der Ausdruck in ihrem Gesicht so gut wie gar nicht: Es lag bereits Furcht darin, und daran änderte sich nichts. Es gab keine Worte, die sie, die Gruppe, und sie, allein mit dem Kind, hätten austauschen können. Sie hatten alle Angst, und diese Angst nahm es ihnen ab, das zu erklären, was der Erklärung bedurfte. Jeder spürte, dass der andere ebenfalls auf der Flucht war. Jeder hatte diesen harten Blick. Jeder ihrer Atemzüge war der eines Menschen auf der Flucht. Und nicht der von einem der Wölfe, die ihnen auf den Fersen waren. Das spürte man. Die wiedergekehrte Zeit machte es möglich, das zu spüren. Man konnte sich also wieder aufrichten. Die Frau schirmte ihr Kind mit der Hand ab, entspannte sich aber ein wenig. In dem Augenblick traten drei Männer hinzu und stellten sich schützend um sie herum. So standen sich die beiden Gruppen gegenüber und musterten sich, sie nahmen sich Zeit, einander anzusehen, aber nicht sehr lange. Einer von den drei Männern machte einen Schritt auf die Chinesen zu. Und reichte demjenigen, der ihm am nächsten stand, die Hand. Der ergriff sie und setzte dazu an, die wenigen Worte auszusprechen, die ihnen möglicherweise helfen konnten, klarer zu sehen. Der Mann ihm gegenüber legte einen Finger an die Lippen. Kurz wehte ein kühler Luftzug vorbei. Er forderte sie auf, ihnen zu folgen. Die Gruppe begab sich noch tiefer in den Wald hinein und ließ Tossicia hinter sich. Nachdem sie eine halbe Stunde gegangen waren, kamen sie zu einem kleinen, gut geschützten Hügel. Dort lagerten Dutzende Männer und Frauen sowie ein paar sehr kleine Kinder. An jedem Baum saß eine Gruppe beisammen, offenbar Familien, insgesamt gut hundert Personen. Ihre vier Führer gingen voraus, und die Chinesen folgten ihnen. Da befiel sie ein Gefühl, das wie eine Umarmung war und das sie in diesem Augenblick nur schwer hätten beschreiben können. Sie stießen zu einer Gruppe von Menschen dazu, die anders waren als sie. Natürlich beäugte man sich gegenseitig, aber darin lag keine besondere Feindseligkeit. Natürlich waren sie nicht gleich: Ihre Gegenüber waren schließlich keine Chinesen, aber das war nur ein unwichtiges Detail. So viel Neues drang gleichzeitig auf sie ein. Die Frauen und Kinder, eine gemischte Gruppe also. Die Flüchtlinge, die sie vor sich hatten, waren schmutzig, sie waren in Lumpen gekleidet, während sie Bauernkleidung trugen, die das Kloster ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Es waren einfache Kleider, aber dennoch richtige Kleider, die sicher nicht dafür gemacht waren, damit durch die Wälder zu irren. In allem wurde ihre Verschiedenheit deutlich, sogar in dem, was sie sich nicht sagten. Aber sie spürten, dass dies vorübergehende Eindrücke waren, solange, bis man sich ein wenig in Augenschein genommen und dem anderen dadurch mitgeteilt hatte, dass er existierte. Sie spürten, dass eben diese Fremdheit nicht lange Bestand haben würde, weil sie sich veränderte und sie zu einem Gefühl hingeleitete, dessen Farbe sie vergessen hatten und das sie nun überkam: Dort im Unterholz, inmitten dieser Menschen, waren sie jetzt nicht mehr die Chinesen, wie man sie seit Monaten nannte. Sie waren nicht mehr die Chinesen von Isola und noch weniger die Chinesen Italiens. Sie waren nicht mehr das, wofür man sie zusammengeführt und in die Verbannung geschickt hatte. Das, worauf man sie hatte reduzieren wollen. Sie waren nicht länger die Staatsangehörigen einer feindlichen Macht, die man gefangen hielt, damit die öffentliche Ordnung nicht gestört wurde. Sie waren Flüchtlinge unter Flüchtlingen, Entkommene innerhalb einer Gruppe von Entkommenen, Andersartige unter Andersartigen. Dadurch gewannen sie wieder die Kontrolle sowohl über das, was ihnen eigen war, als auch über das, was sie mit ihrer Umgebung gemeinsam hatten. Sie würden mit diesen anderen, die sie

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