1172 - Die Macht des Kreuzes
mussten in ihren Körper eingetaucht sein. Sie sah wieder aus wie ein völlig normaler Mensch, der sie nicht wahr. Bei genauerem Hinsehen wirkte Emily White schon ätherisch. Mit ein wenig Fantasie konnte man sich leicht vorstellen, dass sie plötzlich in die Höhe schwebte und zu einer Lichtgestalt wurde. Mit einer Hand strich sie leicht über ihre Stirn, als wollte sie eine Haarsträhne wegwischen. Die Augenbrauen bewegten sich aufeinander zu, das Lächeln auf ihren Lippen verging, als sie an Glenda vorbei auf Harold Winter schaute.
»Muss er sich schon hinter dir verstecken, Glenda?«
»Nein, das muss ich nicht!«, erwiderte Winter und wollte Glenda zur Seite schieben.
»Bleiben Sie!«
»Aber…«
»Ich habe es ihm angeboten«, erklärte Glenda. »Von sich aus hätte er es nicht getan.«
»Ja, ich kann es mir denken. Er wollte wieder einmal den großen Mann spielen. Wie so oft. Er ist jetzt der Chef, aber er hat leider zu wenig von seiner Mutter mitbekommen. Mag er eine große Sensibilität gegenüber seinen Tieren zeigen, so lässt er sie bei den Menschen vergessen. Zumindest bei mir. Er hat mich nicht verstanden. Er hat nichts begriffen. Er hat mich sogar einsperren lassen. So weit ist es schon gekommen. Aber ich lasse mich nicht verjagen, denn man verjagt keine Engel. Nicht wahr, Glenda?«
»Was willst du hören?«
»Da stimmst du mir doch zu - oder?«
Glenda Perkins antwortete mit einer Gegenfrage. »Benehmen sich denn Engel so wie du?«
»Bitte, Glenda«, sagte Emily und schüttelte leicht den Kopf. »Kannst du dich beschweren?«
»Nein, das kann ich nicht. Wir beide sind immer prima miteinander ausgekommen.«
»Eben, das meinte ich doch.«
»Deshalb möchte ich, dass es auch so bleibt. Wir könnten sogar Freundinnen sein.«
Über Emilys Gesicht huschte ein Lächeln. »Hört sich wirklich gut an, was du mir da gesagt hast. Ja, das finde ich gut. Aber Freundinnen müssen sich gegenseitig akzeptieren. Eine darf die andere nicht unterdrücken. Wenn ich dich so anschaue, dann muss ich leider feststellen, dass du gegen mich arbeitest, Glenda. Es tut mir leid, aber das sehe ich so.«
»Irrtum, Emily. Ich arbeite nicht gegen dich. Auch nicht gegen deine Person. Ich möchte dich nur vor einer riesigen Dummheit bewahren. Es kann nicht sein, dass man durch den Tod eines anderen Menschen seine eigenen Probleme löst. Gerade bei einem Menschen, der auf dem Weg ist, ein Engel zu werden, muss die Latte der Moral sehr hoch angelegt werden. Das wirst du doch einsehen?«
Emily schüttelte leicht den Kopf. »Wer hat gesagt, dass ich ihn töten will? Ich habe mich einmal gehen lassen, dabei bist du Zeugin gewesen. Ein zweites Mal wird mir das so leicht nicht passieren. Aber du weißt nicht, wie sehr ich gelitten habe unter ihm. Deshalb kann ich nicht anders handeln. Ich muss ihn bestrafen. So wie ich schon die Ärztin und auch noch Mirko bestraft habe, der auf Winters Seite steht. Engel sind gerecht, Glenda.«
Natürlich wusste Glenda, worauf Emily hinaus wollte. Sie hatte noch ein Gegenargument parat. »Ich habe Engel bisher immer mit dem Begriff Liebe verbunden…«
»Das eine schließt das andere nicht aus. Aber ich möchte nicht mehr diskutieren. Tu uns beiden einen Gefallen, Glenda, und geh bitte zur Seite.«
»Nein!«
Emily White zeigte sich überrascht. Ob echt oder gespielt, Glenda konnte es nicht herausfinden. »Willst du dich gegen mich stellen? Willst du so sein wie die beiden Typen, die mich auf der Wiese hinter dem Supermarkt vergewaltigen wollten? Hast du das vor?«
»Bitte, du weißt genau, dass dem nicht so ist, Emily. So etwas will ich nicht hören…«
»Glenda!« Die Stimme nahm einen leicht drohenden Klang an. »Ich lasse mich nicht von meinem Plan abbringen. Und du stehst allein. Auch John Sinclair kann dir nicht helfen. Er wird sich erst dann wieder frei bewegen können, wenn ich mit meiner Rache fertig bin. Und wenn du dich auf Winters Seite schlägst, dann kann ich auch bei dir für nichts garantieren.«
»Willst du mich bestrafen?«
»Nicht gern!«
Glenda saugte vor ihrer Frage scharf die Luft ein. »Aber du würdest es tun?«
»Ja!«
Allmählich merkte Glenda, dass sie sich übernommen hatte. Sie war nicht John Sinclair. Sie besaß auch nicht sein Kreuz, das sie gegen Emily hätte ins Feld führen können. Sie war nicht mehr und nicht weniger als ein normaler Mensch, der jetzt merkte, wie der Widerstand allmählich zusammenbrach. Es war so verdammt schwer, bei seiner Meinung
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