118 - Der Unersättliche
ziemlich frei; jeder tat, wozu er gerade Lust hatte. Er hatte sie von Rio mit nach Buzios genommen und sich nach der ersten Nacht von ihr getrennt. Aber sie griff immer wieder auf ihn zurück. Und das war recht bequem für ihn, denn er brauchte nicht über einsame Nächte zu klagen.
Vor einer knappen Stunde war er über die kopfsteingeplasterte Straße spaziert und hatte auf der Terrasse von
Pacato
Leila entdeckt. Sie war eine Augenweide, und er entschloß sich in diesem Augenblick, sie zu seiner ständigen Begleiterin zu machen.
Aber sie bemerkte seine Anwesenheit überhaupt nicht. Er mußte sie erst auf sich aufmerksam machen, und da bedachte sie ihn mit einem frostigen Blick. Er wollte etwas Passendes erwidern, doch sie kam ihm zuvor.
„Schnauze!" sagte sie. „Paß auf, gleich kommt der Oga vorbei."
Mit „Oga" meinte sie wohl Longrival da Silva. Denn, als dieser kaum eine Minute später mit einer Schar seiner Anhänger vorbeikam, hatte sie nur Augen für ihn - und er entschädigte sie mit einem langen durchdringenden Blick, bevor er mit seiner Samba-Truppe weiterzog.
„Hugh, es geht zu einer
batucada
bei Alcione", rief einer aus Longrivals Truppe Keller zu. „Können wir, mit dir rechnen?"
„Wer weiß", rief Keller zurück. „Zuerst muß ich mir Leila für diese Nacht sichern."
Er hatte kaum ausgesprochen, da spürte er einen harten Druck an seiner Kehle. Scharfe Nägel bohrten sich in sein Fleisch. Leilas zur Fratze verzerrtes Gesicht schob sich in sein Blickfeld.
„Bevor ich mich von dir Schwein betasten lasse, bringe ich dich um", sagte sie haßerfüllt. Sie ließ seine Kehle los und ging davon.
Er hörte das Gelächter der anderen nicht, sondern spürte nur das warme Blut an seinem Hals.
Da schlug in seinem Kopf eine Klingel an.
Der Blick, den Leila und Longrival getauscht hatten, hatte eine tiefere Bedeutung gehabt. Da steckte mehr dahinter. War es möglich, daß Longrival schuld an der Veränderung war, die mit den Mädchen von Buzios vor sich gegangen war?
Keller erinnerten sich daran, daß der Geistheiler Leila vor einigen Tagen auf spektakuläre Art und Weise die Mandeln herausoperiert hatte. Und das Mädchen seines „impotenten" Freundes hatte sich vom Curandeiro den Blinddarm entfernen lassen. Und er hatte an Marcia die Abtreibung vorgenommen.
Konnte man da noch von Zufall sprechen, wenn mit all jenen Mädchen eine Verwandlung vor sich gegangen war, die näheren Kontakt mit Longrival da Silva gehabt hatten?
Schwer zu glauben, da es allgemein bekannt war, daß da Silva nicht nur der Geistheiler der Beautiful People von Buzios war, sondern auch der Hohepriester einer von ihm gegründeten Sekte. Es war denkbar, daß er die Mädchen verhext hatte.
In diesem Moment wurde sich Hubert Keller bewußt, warum er überhaupt nach Brasilien gekommen war. Er wollte die Geheimkulte und Sekten wie Macumba, Yoruba, Santeria, Xango und Candomble - und wie sie alle hießen - erforschen. Daß er seine Absicht fast vergessen und es ihn ausgerechnet nach Buzios verschlagen hatte, daran waren seine Vorliebe für schöne Mädchen und das süße Leben schuld.
Aber jetzt war sein Forscherdrang aufs neue geweckt worden.
Keller war fest davon überzeugt, daß Lonrival da Silva hinter allem steckte. Wie viele Mädchen hatte er bereits in seinen Bann geschlagen?
Er brauchte viel Zeit zum Nachdenken. Sollte die Behörde von seinem Verdacht unterrichtet werden? Aber in Buzios gab es keine Polizeistation. Er müßte nach Niteroi fahren, oder gleich nach Rio fliegen. Aber was hätte er sagen sollen? Daß die Mädchen von Buzios plötzlich enthaltsam geworden waren und nichts mehr von ihren Verehrern wissen wollten?
Er würde sich lächerlich machen.
Nein, er durfte die Sache nicht an die große Glocke hängen. Es gab unzählige Sekten in Brasilien. Viele wirkten im verborgenen und waren dennoch harmlos. Er mußte sich eingestehen, daß das Verhalten der Mädchen bisher noch keinen Grund zu ernsthafter Besorgnis gegeben hatte. Morddrohungen, wie er sie gehört hatte, mußten nicht viel bedeuten.
Dennoch, sein Interesse war geweckt.
Er war bis zum Einbruch der Dunkelheit durch Buzios geschlendert. Irgendwann fand er sich in der stillen Bucht von Farradurinha. Es dämmerte bereits, und auf dem Meer blinkten die Laternen von vier verankerten Jachten. Lärm drang herüber. Dort war man fröhlich und ausgelassen.
Am Strand waren zwischen den Baumriesen Baumhütten errichtet worden. Dort ging es intimer zu.
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