1187 - Wächterin am Höllentor
Totenfeiern nie miterlebt.«
»Die Tür lässt sich nicht aufziehen?«
»Haben Sie es denn versucht, Miss Collins?«
»Ja. Nicht allein. Mr. Sinclair ebenfalls. Das ist es ja, was uns Sorgen bereitet. Die Tür lässt sich nicht öffnen, und trotzdem haben wir Schreie aus dem Leichenhaus gehört. Können Sie das begreifen, Schwester Clarissa?«
***
War es Tag? War es Nacht? War es hell? War es dunkel?
Nichts stimmte mehr für Schwester Josepha. Sie war in dieser totalen Finsternis gefangen und hatte das Gefühl für Zeit verloren. Sie hatte geschrieen, getobt, gefleht und gebettelt. Sie war gelaufen, sie war gekrochen, sie hatte geweint und sich immer wieder Fragen gestellt, ohne Antworten zu bekommen.
Schließlich konnte sie nicht mehr. Sie war in eine Ecke der alten Leichenkammer getaumelt und hatte sich dort wie ein Kind mit angezogenen Beinen auf den Boden gehockt, den Kopf gesenkt, das Gesicht in den Händen vergraben.
Es war der Vorhof zur Hölle, das Wartezimmer zum Jenseits, in das sie gesteckt worden war. Josepha hätte nicht gedacht, dass sich ein Mensch so schnell und so radikal ändern konnte. Jetzt, da sie ruhiger geworden war, begriff sie ihr Verhalten nicht. Sie hätte ruhiger, viel ruhiger sein müssen und nicht in diese Panik verfallen sollen. Aber das war jetzt zweitrangig. Es war nun mal geschehen, und daran konnte sie nichts ändern.
Josepha war eine Frau, die es verstand, das Leben im Kloster zu organisieren. Dafür achtete man sie. Sie wusste stets einen Rat, sie fand für die Probleme ihrer Mitschwestern immer die passenden Worte, aber das Trauma ihrer Kindheit war noch nicht beendet. Die Angst vor dem Dunkeln und des Alleinseins.
Ihr Problem. Entstanden durch das Verhalten einer strengen Mutter, die sehr nervös gewesen und mit ihren drei Kindern nicht fertig geworden war.
Josepha war die Älteste gewesen. An sie waren Anforderungen gestellt worden, den, die sie nicht hatte erfüllen können. Beim geringsten Versagen hatte die Mutter sie in den Keller gesperrt. Stundenlang hatte sie in der Dunkelheit warten müssen, bis sie wieder herausgelassen worden war.
Grauenhaft für ein Kind.
So etwas prägte.
Es gab Menschen, die dies nicht verkrafteten und durchdrehten, wenn sie erwachsen waren. Aus ihnen wurden Killer, Tier- und Menschenquäler, Sadisten und einiges mehr.
Das jedenfalls glaubte die Frau. Sie hatte einen anderen Weg eingeschlagen. Sie wollte ihre schlimme Kindheit aufarbeiten, und sie hatte sich schon sehr früh entschlossen, in ein Kloster zu gehen. So kam sie von zu Hause weg, wurde in einer der Kirche angehörigen Schule ausgebildet und war dann den Weg direkt weitergegangen. Von der Pike auf hatte sie alles durchlebt, und schließlich hatte man ihr die Verantwortung über das Kloster Holy Hill gegeben.
Aber das Trauma ihrer Kindheit war geblieben. Sie hatte es nicht völlig überwinden können. Die Furcht vor der Dunkelheit blieb, und das hatte sie wieder erleben müssen.
Auch jetzt, wo sie auf dem kalten Boden hockte und in der Ecke saß, fühlte sich Josepha umkesselt von unsichtbaren Wesen, die sie nie in Ruhe lassen würden.
Sie waren da. Sie lauerten auf sie. Irgendwo in der Dunkelheit versteckt, und wenn sie genau hinhörte, dann drangen fremde Laute an ihre Ohren.
Einbildung? Stimmen, die es nicht gab? Etwas, das aus dem Dunkel ihrer Seele an ihr Gehör drang?
Das sie sich einbildete? Ihre eigene Angst, aus den tiefsten Schichten der Seele steigend?
Josepha wusste es nicht. Sie konnte auch nichts sehen, obwohl sie die Augen weit geöffnet hatte.
Um sie herum gab es nur die Finsternis, und die Tür schloss fugendicht.
So blieb sie weiterhin allein. Sie hatte Stunden in diesem schrecklichen Verlies hinter sich. Die Ängste der Kindheit waren nicht verloren gegangen. Sie hatten sich nur versteckt gehalten und traten jetzt wieder hervor.
Die Mutter!
Der Gedanke beherrschte Josepha. Sie sah die streng wirkende Frau mit den kalten Augen immer wieder vor sich. Die Mutter hatte ihre Kinder ebenso gehasst wie ihren eigenen Ehemann, einen abgebrühten Menschen und Egoisten, der nur sich gekannt hatte. Unberechenbar in seiner Wut hatte er seine Frau so manches Mal gedemütigt, und die Nonne dachte daran, wie oft sie die Mutter hatte weinen hören.
Eigentlich konnte sie ihr keinen Vorwurf machen. Sie hatte auch nicht die Kraft gehabt, sich von ihrem Mann zu trennen, denn so etwas tat man damals nicht.
Da litt man eben mit…
Aber das Bild der Mutter
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