1188 - Wartesaal zum Jenseits
Gesicht ebenfalls gegen die Decke gerichtet. Es war keine Fratze mehr, denn in diesen Augenblicken wirkte das Gesicht wie verklärt. Sogar ein Lächeln lag auf seinen Lippen.
Glenda fragte sich, was diese Verwandlung überhaupt sollte. War der Typ jetzt völlig durchgedreht?
Sie erlebte jetzt genau das Gegenteil dessen, worunter sie noch vor knapp einer Minute gelitten hatte.
»Der Ruf hat mich erreicht! Ja, die Kirche ruft mich! Die Heilige ist da. Sie hat den Wartesaal zum Jenseits verlassen. Endlich ist es passiert. Sie will, dass wir alle zu ihr kommen. Wir werden sie sehen. Sie wird uns das Jenseits näher bringen. Das Wunder ist geschehen. Es ist unglaublich…«
Beide Frauen existierten für ihn nicht mehr. Er suchte das Zimmer ab und schaute dabei mal zur Decke, mal auf die Wände, dann zum Fußboden hinab.
Schließlich ging er.
Er kümmerte sich weder um Tessa noch um Glenda. Für ihn war es wichtig, das neue Ziel zu erreichen. Er riss die Tür ruckartig auf und war sofort danach verschwunden.
Glenda hätte vor Erleichterung weinen können…
***
Das allerdings tat sie nicht. Sie riss sich zusammen und bewegte sich wieder in ihrem Sessel. Sie winkelte die Arme an, nahm dann die Hände als Stütze und freute sich, dass sie überhaupt aufstehen konnte. Sie brach nicht mehr zusammen und blieb mit zittrigen Knien vor dem Sitzmöbel stehen.
Vor ihren Augen schwankte das Zimmer. Es hatte sich in die Kajüte eines Schiffes verwandelt, das über ein wildes Gewässer fuhr und dabei durchgeschaukelt wurde.
Glenda litt an den Folgen des Überfalls. Der Hals brannte, wenn sie Luft holte. Als sie versuchte, erste Worte zu sprechen, brachte sie nur ein Krächzen hervor. Ähnliche Laute hätte auch ein Papagei ausstoßen können.
»Glenda…?«
Erst als sie Tessas Stimme hörte, kehrte die Frau wieder zurück in die Normalität. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Nun erst fiel ihr wieder ein, weshalb sie überhaupt in diese Wohnung gekommen war.
Tessa hatte nicht laut gesprochen. Das war ihr auch nicht möglich gewesen, denn Glenda sah beim Näherkommen die rötlichen Würgemale auf der Haut am Hals. Der Typ hatte sie auf die gleiche Art und Weise töten wollen wie Glenda.
Vor Tessa hielt sie an. Senkte den Kopf. Versuchte zu lächeln.
Schließlich flüsterte Glenda: »Wir leben. Wir haben es geschafft. Wir sind diesem Irren entkommen.«
Tessa schaute Glenda direkt an. »Er ist furchtbar«, flüsterte sie. »Grauenvoll.«
»Du… du… kennst ihn?«
Tessa, die noch ziemlich groggy war und sich weiterhin den Hals rieb, konnte zunächst keine Antwort geben. Glenda dachte daran, dass Wasser unter Umständen half. Deshalb ging sie in die Küche und füllte dort zwei Gläser mit Leitungswasser.
Eines drückte sie Tessa in die Hände. Sie war froh, dass ihre Freundin allein trinken konnte. Es tat ihr auch gut. Als sie das leere Glas zur Seite stellte, konnte sie sogar wieder sanft lächeln.
Glenda hatte der Schluck Wasser ebenfalls gut getan. Sie wiederholte praktisch die Frage. »Du kennst diesen Mann?«
»Ja, aber nicht gut. Er heißt Ben Clemens.«
»Nie gehört den Namen.«
»Er ist ein Priester…«
»Was?« Glenda starrte sie ungläubig an. »Bist du sicher?«
»Das bin ich. Er hat meine Mutter beerdigt. Er und seine anderen Schafe. Sie bilden eine Gemeinschaft. Ich… ich… glaube nicht, dass sie hier die offizielle Religion vertreten. Clemens ist ein religiöser Fanatiker. Er hat verschiedene Personen um sich versammelt, die ebenfalls so denken wie er. Da kann man nichts machen. Es finden sich immer wieder welche.«
»Ihre Mutter hat auch dazugehört?«
»Ja, leider. Ich habe es nicht gewusst. Erst auf der Beerdigung erfuhr ich von ihrer Obsession. Sie und die anderen waren verrückt nach Heiligen. Sie wollten so werden wie sie. Und sie gingen davon aus, dass diese Heiligen im Wartesaal zum Jenseits sitzen. Man wollte Kontakt haben, um mehr darüber zu erfahren.«
»Glaubst du das?«
Tessa schluckte, bevor sie flüsterte: »Ja, ich glaube das! Ich habe die Stimme meiner toten Mutter gehört. Das lasse ich mir nicht nehmen. Es war sie…«
Glenda nickte. »Kann sein. Ist vielleicht möglich, aber dieser Clemens hat plötzlich das Interesse an mir verloren. Nur noch einige Sekunden, dann wäre ich ohnmächtig geworden und hätte keine Chance mehr gehabt. Aber das war plötzlich vorbei. Er verlor schlagartig das Interesse.« Glenda schaute Tessa direkt in die Augen. »Hast
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