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1188 - Wartesaal zum Jenseits

1188 - Wartesaal zum Jenseits

Titel: 1188 - Wartesaal zum Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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vertrieben.
    Sie hörte auch nicht mehr, was der Pfarrer sagte, der sich zu ihr umdrehte.
    Er war ein Mann, der irgendwie alterslos wirkte. Schmal. Graues Haar, graues Gesicht. Augen, die sie anschauten. Tessa hatte Mühe, dem Blick standzuhalten. Sie merkte, dass ihre Hände zitterten.
    Deshalb drückte sie die Finger zu Fäusten zusammen. Auch die anderen Trauergäste kamen jetzt näher. Ein Fuß stieg leicht gegen den hohen Lehmhaufen am Rande des Grabes. Einige Erdklumpen gerieten in Bewegung. Sie rollten über den Rand hinweg in das Grab hinein und schlugen mit einem pochenden Laut auf den Sargdeckel. Tessa hörte das Geräusch überdeutlich.
    Sie war davon ausgegangen, dass der Pfarrer ihr kondolieren würde.
    Aber er streckte ihr nicht die Hand entgegen. Wie ein Denkmal blieb er an der Seite des Grabes stehen und begann mit einer neuen Rede. Er wandte sich nicht mehr an die Tote, sondern an die Trauergäste.
    Tessa mochte seine Stimme nicht. Sie klang ihr zu salbungsvoll, und auch jetzt hatte sie diesen Ausdruck nicht verloren.
    »Unsere Schwester ist von uns gegangen. Sie hat den Weg als Erste geschafft. Und sie ist dabei, das zu sehen, was wir später ebenfalls zu sehen bekommen. Wir sollten uns darauf vorbereiten, wir sollten uns freuen und daran denken, dass sie es geschafft hat, worauf wir noch hinarbeiten. Der Tag des Schmerzes kann auch zu einem Tag der Freude oder des Glücks werden. Wie haben wir immer gesagt? Die Wartezeit ist vorbei, zumindest für unsere Schwester Marga. Deshalb sollten wir auch dankbar sein und uns mit ihr freuen…«
    Tessa begriff die Worte nicht. Sie fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Wie konnte jemand so reden? Das passte nicht ans Grab einer Toten. Wahrscheinlich hatte sie zu wenige Beerdigungen erlebt und war nicht auf dem Laufenden. Möglicherweise redete man heute so. Auch wenn, sie war trotzdem nicht in der Lage, dies zu begreifen. So redete man nicht an einem Grab. Für sie war es ein Novum.
    Sie schaute sich wieder vorsichtig um. Gesichter und Gestalten rahmten sie ein. Freunde der Mutter.
    Keine Träne floss. Kein Blick war verschleiert, und die Trauergäste kamen ihr auf einmal so unheimlich vor.
    Fast wie Teufel, die sich verkleidet hatten. Tessa musste unwillkürlich den Kopf schütteln. Alle sahen es, aber nur der Pfarrer reagierte.
    »Glaubst du mir nicht, meine Tochter?«
    Jetzt, da Tessa direkt angesprochen worden war, hatte sie die Antwort nicht parat. Sie ärgerte sich selbst über ihr Schulterzucken und hörte, wie ein pfeifender Atemzug über ihre Lippen drang.
    »Meine Mutter ist tot!«, sprach sie, nur um irgendetwas zu sagen. »Tot, verstehen Sie?«
    »Ja, ich verstehe. Aber Sie sollten es trotzdem anders sehen. Sie ist auf dem Weg und schon fast am Ziel.« Bei diesen Worten begannen die Augen des Pfarrers zu glänzen. »Sie ist dort, wo wir alle hinkommen werden. Sie hat es geschafft!«
    Tessa spürte Wut in sich hochsteigen. Sie bekam einen roten Kopf und musste sich zusammenreißen, um nichts Falsches zu sagen. »Wissen Sie eigentlich, dass meine Mutter noch so verdammt jung gewesen ist? Sie hätte nicht zu sterben brauchen. Sie wurde brutal mitten aus dem Leben gerissen. Was Sie hier tun und reden, das ist doch alles Täuschung. Okay, dreißig Jahre später hätte ich es verstanden, aber meine Mutter war gerade Fünfzig.«
    »Sie war vorbereitet, meine Teure.«
    »Unsinn.«
    »Jeder von uns ist vorbereitet. Wir alle sind ihre Freundinnen und Freunde gewesen. Wir können es so gut nachvollziehen. Wir Menschen befinden uns alle in der Warteschleife, um nach ihrem Verlassen das große Ziel zu erreichen.«
    Tessa hatte das Gefühl, einen Schlag gegen den Kopf zu bekommen. So etwas hatte ihr noch nie jemand gesagt. Am liebsten hätte sie gelacht, doch das wäre verkehrt gewesen. Stattdessen spürte sie den Drang in sich, auf der Stelle kehrtzumachen und einfach wegzulaufen. Nur nichts mehr von diesen Leuten sehen. Sie widerten sie an. Für Tessa waren das keine Freunde, sondern falsche Freunde. Auch das Leben ihrer Mutter wollte sie von nun an mit anderen Augen sehen. Schon jetzt stand für sie fest, dass die Verstorbene ein großes Geheimnis mit sich herumgetragen hatte.
    Tessa wusste auch nicht, wohin sie blicken sollte. Sie wollte den hellbraunen Sarg nicht sehen, und sie wollte auch nicht in die Gesichter der anderen schauen. Sie fühlte sich von diesen verdammten Blicken regelrecht ausgezogen.
    Die Menschen kamen ihr vor, als stünden sie nur

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