1192 - Schamanenkult
Meister?
Lange brauchten wir nicht zu suchen. Wir sahen ihn in der Mitte. Er saß nicht, er stand nicht, er lag.
Zuerst sah es aus, als hätte er sich auf den blanken Steinboden gelegt. Beim genaueren Hinschauen erkannten wir, dass er auf einer Decke oder einer dünnen Matratze lag und den Kontakt mit dem Boden auf direkte Art und Weise mied.
»Der liegt da wie ein Toter«, flüsterte Bill.
Ich musste ihm Recht geben, denn beim ersten Hinschauen sah es wirklich so aus. Wenn er ein Toter war, dann ein besonderer oder er war dazu gemacht worden, denn der Mann war vom Kopf bis zu den Füßen in helles Tuch eingewickelt. Der Stoff sah aus wie ein Totenhemd, das der Schamane eng um seinen Körper gewickelt hatte.
Wir blieben am Beginn einer der Gänge stehen. Es war wirklich ungewöhnlich, das zu sehen. So etwas hatten wir noch nie erlebt, und es stellte sich die Frage, ob die beiden Typen vor der Tür eine Leiche bewacht hatten.
Daran glaubten wir nicht. Schamanen oder Gurus sind Menschen, die es oft schaffen, die Naturgesetze zu überwinden. So war es manchen möglich, sich tagelang begraben zu lassen. Oder Monate ohne Nahrung auszukommen. Andere legten sich auf Nagelbretter oder stießen sich scharfe Gegenstände durch das Fleisch ihrer Wangen. Es war nicht unsere Welt, aber wir waren es gewohnt, mit dem Fremden konfrontiert zu werden.
»Schauen wir ihn uns mal aus der Nähe an«, schlug der Reporter flüsternd vor.
Wir gingen mit möglichst lautlosen Schritten auf das Zentrum der kleinen Meditationshalle zu. Von oben her fiel das Licht und malte seinen Schein auf den Boden. Es erreichte auch den eingepackten Mann, der mehr auf dem Bauch als auf der Seite lag und die Beine leicht angezogen hatte, als wollte er aus seiner Haltung im nächsten Moment aufspringen. Die Arme waren nicht zu sehen, die Füße ebenfalls nicht, und auch von seinem Gesicht sahen wir nichts. Jeder Teil seines Körpers war durch das helle Tuch verdeckt.
Der Schamane hatte sich straff darin eingewickelt. Es war für uns auch nicht zu sehen, ob er atmete, denn das Tuch bewegte sich weder in Höhe des Kopfes noch der Brust.
»Was tut er?« flüsterte Bill.
Suko gab die leise Antwort. »Abgesehen davon, dass er meditiert, sucht er den Kontakt zu den Geistern. Er will ihre Stimmen hören, um sich von ihnen leiten zu lassen.«
»Super, Suko. Woher weißt du das?«
»Ich habe auch mal gelernt.«
Suko hatte damit auf seine Zeit in einem Kloster angespielt. Nur selten redete er darüber. Meistens behielt er das Thema für sich. Ich konnte mir vorstellen, dass er noch von zahlreichen Geheimnissen umweht wurde.
Ob der Schamane uns Störenfriede bemerkt hatte oder nicht, das war für uns nicht feststellbar. Er machte jedenfalls nicht den Eindruck, als hätte er uns gehört. Er blieb bewegungslos unter dem umgewickelten Tuch liegen.
»Wir sollten ihn wecken«, sagte ich.
»Das übernehme ich!«
»Okay, Suko.«
Bill und ich blieben zurück, als sich unser Freund dem Schamanen näherte. Etwa in Kopfhöhe kniete sich Suko neben die Gestalt und senkte seinen eigenen Kopf sehr tief. Sein Mund schwebte dicht über dem Ohr des Eingepackten.
Wenig später hörten Bill und ich die geflüsterten Worte, die aus Sukos Mund strömten. Was er sagte, verstanden wir nicht, aber Suko musste wissen, was er tat. Möglicherweise hatte er sich an die Jugendzeiten in diesem Kloster und an seine erste Erziehung durch die Mönche erinnert.
Er richtete sich nach einer Weile wieder auf, blieb jedoch mit angezogenen Beinen auf dem Boden dicht neben dem Schamanen knien und wartete.
Im Hintergrund standen Bill und ich. Um uns herum war es beklemmend still. Man hätte das Aufschlagen der berühmten Nadel hören können.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging. Es konnten zwei oder auch drei Minuten gewesen sein, bevor etwas geschah. Da zeigte es sich, dass Suko Erfolg gehabt hatte, denn durch die Gestalt unter der Decke lief ein Zucken.
Suko schaute uns an. Er lächelte, und wir lächelten zurück.
Die Gestalt, die es unter dem Tuch wohl nicht mehr aushielt, begann sich zu strecken. Das Tuch spannte sich dabei am Oberkörper und auch an den Beinen. Die Füße zuckten, und sie waren es, die wir als erste sahen.
Nackte Füße schauten unter dem Rand des Tuches hervor. Leicht gebräunte Haut zog sich über Zehen, die sich bewegten und dabei zuckten, als wären sie von Stromstößen erwischt worden.
Keiner von uns half ihm. Der Meister wickelte sich allein aus dem
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