1192 - Schamanenkult
frustriert in den Tod gehen. So großzügig bin ich.«
Der Reporter hatte sich den Verlauf seines Besuchs zwar anders vorgestellt, aber es blieb ihm keine Wahl. Er musste tun, was die Person hinter ihm verlangte.
Um die Schwelle übertreten zu können, musste er die Tür noch weiter aufschieben. Er ging den ersten Schritt, hatte freien Blick und staunte darüber, was sich ihm da alles präsentierte. Abgesehen davon, dass die beiden Fenster fast zugezogen waren, bot dieser Raum eine wirklich exotische Ausstattung. Es gab den normalen Schreibtisch als Mittelpunkt, aber die Wände waren mit dem bestückt, was sich mancher Reisende aus fernen Ländern mitbrachte.
Ausgestopfte Tiere. Eine Schildkröte, eine Schlange, ein Warzenschwein, ein Ameisenbär und einige Vögel, die Bill noch nie zuvor gesehen hatte. Sie alle hatten ihre Plätze zwischen den Waffen, den Masken und auch den beiden auf Lanzen steckenden Schrumpfköpfen gefunden, die möglicherweise diesen ekligen Geruch abgaben, der das Zimmer erfüllte.
Ein paar Mal las Bill den Namen Borneo. Er ging davon aus, dass alles, was er hier sah, von der Insel stammte.
Auf dem Schreibtisch brannte eine Tütenlampe. Sie schickte ihren Lichtkreis auf eine Fläche in der Mitte des Schreibtisches. Dort arbeitete Avery Taylor an einem Gegenstand, den Bill wegen seines schlechten Blickwinkels nicht erkannte. Bis jetzt hatte Avery Taylor seine Haltung nicht verändert.
»Gehen Sie ruhig näher!«, befahl die Frau mit leiser Stimme. »Es passiert nichts.«
»Weiß man es?«
Sie stieß ihn mit der Waffe an, und Bill durfte zwei weitere Schritte in den Raum hineingehen, bevor er wieder still stehen musste. Erst jetzt bewegte sich Avery Taylor.
Er räusperte sich, bevor er sich auf seinem Stuhl herumdrehte, um Bill Conolly anzuschauen. »Aha, der Nachbar, wie schön.«
Bill gab keine Antwort, Er konzentrierte sich auf das Gesicht mit den kalten Augen und dachte daran, was Sheila ihm beschrieben hatte.
Jetzt hatte er den endgültigen Beweis bekommen. Dieser Mann war genau die Erscheinung im Garten, da gab es keinen Zweifel mehr.
»Er ist neugierig, Avery.«
»Das ist eine Eigenschaft und ein Laster zugleich, denke ich.«
»Das hin und wieder tödlich sein kann.«
»Stimmt!« Taylor stemmte seine Füße kurz gegen den Boden und fuhr dann mit seinem Stuhl ein Stück zurück, sodass Bill jetzt den gesamten Schreibtisch überblicken konnte.
Was da an kleinen Instrumenten herumlag, von der Pinzette bis zum Federmesser, interessierte ihn nicht. Wichtig für ihn war einzig und allein der gelbliche Totenschädel, der praktisch den Mittelpunkt bildete.
Damit hatte er den letzten Beweis. Er konnte nicht sagen, dass er sich deswegen wohler fühlte. Im Gegenteil, er spannte seine Muskeln an und fühlte sich wie auf dem Sprung. Wenn er daran dachte, dass dieser Mensch seine Frau mit einer Schaufel hatte erschlagen wollen, war er nahe daran, sich auf ihn zu stürzen.
Aber Bill riss sich zusammen. Er musste es tun, denn hinter ihm stand die Frau mit der Waffe.
Avery ließ ihm Zeit, den Schädel zu betrachten. Er sagte dabei kein Wort und lächelte nur wissend.
Schließlich bewegte er sich auf seinem Drehstuhl zum Schreibtisch hin, um eine bessere Position zu erreichen. Er streckte eine Hand aus und nahm den Schädel an sich. Er stellte ihn auf seine Oberschenkel und strich fast liebevoll mit der linken Hand darüber hinweg.
»Ist er nicht wunderbar?«
»Da kann man geteilter Meinung sein.«
»Ja, ich weiß. Und er hat auf meinem Grundstück gelegen. Direkt an der Grenze zu Ihrem. Ich musste ihn holen. Nur seinetwegen habe ich das Haus hier erworben.«
»Dann wussten Sie Bescheid?«
»Natürlich, Mr. Conolly. Dieser Schädel ist etwas ganz Besonderes. Er hat einem mächtigen Mann gehört, den man hier begraben hat. Das geschah zu einer Zeit, als diese Gegend noch leer und öde war. Ein Sumpf- und Überschwemmungsgebiet, in dem wilde Tiere lebten und Menschen tagtäglich um ihr Leben kämpfen mussten. Sie waren sehr naturverbunden und glaubten an Götter und an alte überlieferte Rituale. Sie lebten nach bestimmten Regeln, die zumeist von ihren Zauberern oder Schamanen bestimmt wurden. Mächtige Männer, und zu diesen Mächtigen gehörte auch derjenige, dessen Schädel ich auf meinem Schoß habe. Ich habe ihn ausgegraben, denn ich wusste, dass es ein besonderer Schädel ist. Lange genug habe ich mich in Südost-Asien herumgetrieben und die Sitten und Gebräuche der
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