1193 - Das Templerkind
es mir in diesem Moment. Ich schaute fassungslos auf das, was ich sah. Ich wünschte mir, einem Irrtum erlegen zu sein, aber das war keiner.
Mein Schützling hatte diese Ruine verlassen und trug ein Skelett auf den Armen.
Aber das war nicht alles. Das Skelett war noch bekleidet. Mit einem kittelähnlichen hellblauen Gewand, das keine Ärmel hatte, sodass die Knochenarme und auch die Hände hervorschauten.
Erst als sich meine Augen etwas an den Anblick dieser fleisch- und hautlosen Gestalt gewöhnt hatten, richtete ich meinen Blick auf Clarissa und sah, wie sie das Skelett anschaute. Als wäre es ihr Kind. Sie musste sich vorkommen wie eine Mutter, die ihr krankes Kind auf den Armen hielt und es dabei beobachtete. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, das auch von der Mona Lisa hätte stammen können.
Das also war ihr Freund!
Für mich wurde dieses Mädchen immer rätselhafter. Ich war schon auf einiges gefasst gewesen, darauf allerdings nicht, und ich hatte das Gefühl, in einer fremden Welt zu stehen.
Die Zeit verstrich normal, nur kam sie mir viel länger vor als gewöhnlich. Ich wollte etwas sagen, musste mich aber zunächst räuspern, um die Kehle frei zu bekommen.
»Ist das dein Freund?«
»Ja, einer von ihnen.«
»Und wer ist es?«
»Mein Vater!«
Wieder hatte ich den Eindruck, den berühmten Schlag mit dem Hammer bekommen zu haben. Komischerweise glaubte ich ihr alles. Es war gutgewesen, dass ich mit dem Abbé ein paar Sätze gewechselt hatte, denn auch er war skeptisch, was den endgültigen Tod der Eltern anbetraf.
»Gibt es auch eine Mutter?«
»Ja.«
»Wo denn?« Die Frage war dumm, denn die Antwort hätte ich mir auch selbst geben können.
»Dort in der Höhle, John.«
»Darf ich sie sehen?«
»Wenn du willst.«
Es wurde immer ungewöhnlicher. Clarissa tat, als wäre es das Normalste von der Welt, wenn die Eltern einer Zwölfjährigen als Skelette existierten.
»Sie waren meine Eltern und sind auch meine Freunde.«
»Ja«, sagte ich. »Irgendwie verstehe ich das auch. Aber woher weißt du, dass es deine Eltern sind?«
»Sie haben es mir gesagt.«
»Doch nicht die Skelette, Clarissa.«
»Nein, das nicht. Aber ihre Geister. Sie sind ja nicht völlig tot. Die Geister existieren noch. Sie besuchen mich auch. Sie haben mich zu diesem Ort hier geführt. Hier bin ich oft gewesen. Madame hatte auch nie etwas dagegen. Ich liebe meine Eltern. Erst jetzt, wo ich älter geworden bin, habe ich das bemerkt. Sie müssen wunderbar gewesen sein, glaube ich!« Sie lächelte noch stärker. »Irgendwie möchte ich so werden wie sie.«
»Wünsch dir das nicht, Kind«, sagte ich leise.
»Warum denn nicht?«
»Sie sind den falschen Weg gegangen.«
»Für mich nicht.«
»Wer hat sie hergebracht? Sie sind doch nicht hier begraben worden. Das kannst du mir nicht erzählen, oder?«
»Oh - sie haben noch andere Freunde. Sie liegen noch nicht lange hier in meiner Nähe. Aber die Nähe wollte ich haben, und sie wollten es auch so.«
»Zählt auch Madame Ferrant zu diesen Freunden?«
»Das weiß ich nicht, John. Ich glaube nicht, Madame wusste wohl Bescheid, aber es müssen andere gewesen sein, die das hier für mich getan haben. Als ich sie zum ersten Mal sah, da… da… wünschte ich mir, mit ihnen sprechen zu können. Genau das ist jetzt passiert. Ich kann mit ihnen reden.«
»Nein, Clarissa, nicht mit ihnen. Nur mit den Erscheinungen, die dich besucht haben.«
»Und die mir eine große Kraft gaben. Immer wenn sie da waren, dann fühlte ich mich so anders und auch besser. Auch jetzt sind die Geister meiner Eltern hier. Ich spüre sie. Sie befinden sich in meinem Kopf. Dort tanzen ihre Gedanken, und sie sind sehr lieb zu mir. Sie werden mich bald zu ihrem großen Herrn bringen, dem ich geweiht werden soll.«
In mir hatte sich längst ein bestimmter Verdacht festgesetzt. Trotzdem fragte ich: »Kannst du mir den Namen des Herrn nennen?«
»Ich kenne ihn nicht.«
»Auch noch nie gehört?«
»Glaube ich nicht.«
»Kann er Baphomet heißen?«
Bisher hatte sie nur das Skelett angeschaut. Jetzt drehte Clarissa den Kopf und schaute mich an.
»Woher kennst du diesen Namen?«
»So unbekannt ist er nicht«, erwiderte ich. »Eine bestimmte Gruppe von Menschen kennt ihn schon.«
»Sie haben ihn erwähnt. Das weiß ich. Meine Eltern haben es erwähnt. Die beiden Engel…«
»Du glaubst, dass die Besucher die Geister deiner Eltern und zugleich auch Engel sind?«
»Ja, das glaube ich fest. Sie sind
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