12 - Im Auge des Tigers
geschlafen hatte, hatte sein Organismus die sechsstündige Zeitverschiebung noch nicht verarbeitet. Wie Flugzeugpersonal das wegsteckte, war ihm ein Rätsel – er vermutete, dass diese Leute ihre innere Uhr einfach auf den Ort eingestellt ließen, an dem sie lebten, und sich nicht an die jeweilige Ortszeit anpassten. Dazu musste man allerdings ständig unterwegs sein, und das war er nicht. Deshalb schloss er 542
seinen Computer an und begann, sich in den Islam zu goo-geln. Der einzige Muslim, den er kannte, war Prinz Ali von Saudi-Arabien, und der war kein Irrer. Sogar Jacks schüch-terne kleine Schwester Katie mochte ihn – vor allem Prinz Alis akkurat gestutzter Bart faszinierte sie. Jack lud den Koran herunter und begann zu lesen. Die heilige Schrift der Muslime hatte 114 Suren, die wie die Bücher der Bibel in Verse unterteilt waren. Natürlich nahm Jack die Heilige Schrift kaum jemals in die Hand, geschweige denn, dass er tatsächlich darin las, denn als Katholik erwartete er, dass ihm die Geistlichen die wichtigen Passagen auslegten und ihm die Mühe ersparten, selbst nachzulesen, wer zum Teufel wen zum Teufel gezeugt hatte. Das mochte ja früher irgendwann mal interessant – oder sogar amüsant – gewesen sein, aber heutzutage bestimmt nicht mehr, es sei denn, man stand auf Stammbaumforschung, was allerdings bei den Ryans noch nie zu den Gesprächsthemen bei Tisch gehört hatte. Abgesehen davon wusste doch sowieso jeder, dass jeder Ire von einem Pferdedieb abstammte, der aus dem Land abgehauen war, um nicht von den fiesen englischen Besatzern gehängt zu werden. Das hatte eine ganze Reihe von Kriegen nach sich gezogen, von denen einer um ein Haar seine eigene Geburt in Annapolis verhindert hätte.
Es dauerte etwa zehn Minuten, bis ihm klar wurde, dass sich der Koran nahezu Wort für Wort mit dem deckte, was die jüdischen Propheten – selbstverständlich göttlicher Ein-gebung folgend, wie sie behaupteten – zu Papier gebracht hatten. Denselben Anspruch erhob auch dieser Mohammed.
Angeblich hatte Gott zu ihm gesprochen, und Mohammed hielt als braver Chefsekretär alles getreulich fest. Wirklich schade, dass all diese Vögel noch keine Videokameras und Kassettenrekorder besaßen, aber daran ließ sich nun mal nichts ändern. Glaube war eben Glaube, wie ihm in Georgetown mal ein Priester erklärt hatte: Entweder man glaubte, wie sich das gehörte, oder man tat es eben nicht. Jack glaubte selbstverständlich an Gott. Seine Mutter und sein Vater 543
hatten ihn in die Grundbegriffe der christlichen Religion eingeführt und in katholische Schulen geschickt, wo er Gebete und Gebote lernte, zur Erstkommunion ging, zur Beichte – die heutzutage in der milder und freundlicher gewordenen römisch-katholischen Kirche ›Versöhnung‹
hieß – und zur Firmung. Aber mittlerweile hatte Jack schon seit geraumer Zeit keine Kirche mehr von innen gesehen.
Nicht, dass er etwas gegen die Kirche hatte, aber er war inzwischen erwachsen, und nicht in die Kirche zu gehen, war eine (blöde) Art, Mom und Dad zu zeigen, dass er selbst entscheiden konnte, wie er sein Leben führen wollte, und dass er sich von niemandem mehr herumkommandie-ren ließ.
Er stellte fest, dass auf den 50 Seiten, die er gerade überflogen hatte, an keiner einzigen Stelle davon die Rede war, dass man unschuldige Menschen erschießen durfte und dafür anschließend im Himmel mit schönen Frauen belohnt würde. Die Strafe für Selbstmord entsprach auch ziemlich genau dem, was Schwester Frances Mary ihnen in der zweiten Klasse erklärt hatte: Selbstmord war eine Todsünde, die man besser nicht beging, denn hinterher konnte man nicht mehr beichten, um seine Seele von ihr rein zu waschen. Der Islam sagte, der Glaube sei etwas Gutes, aber man dürfe ihn nicht bloß denken. Man müsse ihn auch leben. Nichts anderes lehrte die katholische Kirche.
Nach anderthalb Stunden war ihm klar – an sich ein nahe liegender Schluss –, dass Terrorismus etwa genau so viel mit der islamischen Religion zu tun hatte wie mit dem Katholizismus beziehungsweise Protestantismus der Iren.
Adolf Hitler betrachtete sich, laut seiner Biografen, als Katholik, und zwar bis ganz zuletzt, als er sich die Kugel gab –
offenbar hatte er Schwester Frances Mary nicht gekannt, sonst hätte er es besser gewusst. Fest stand jedenfalls: Dieser Knallkopf war verrückt gewesen. Und wenn Jack nun den Koran richtig verstand, hätte Mohammed die Vorgehensweise der Terroristen zweifellos
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