12 - Im Auge des Tigers
Lastwagen, und der SUV steuerte darauf zu. Beim Näherkommen sah er, dass der Truck leer war und die gro-
ßen, roten Türen weit offen standen. Der Ford Explorer fuhr bis auf hundert Meter heran und hielt. Pedro schaltete den Motor ab und stieg aus.
»Wir sind da, Freunde«, verkündete er. »Ich hoffe, Sie sind bereit für einen Fußmarsch.«
Alle vier kletterten aus dem Wagen, vertraten sich wie beim vorigen Zwischenstopp die Beine und schauten sich um. Während auch die übrigen drei SUVs parkten und die Insassen ausstiegen, kam ein Mann auf sie zu.
»Hallo, Pedro.« Der neu hinzugekommene Mexikaner grüßte den Fahrer des ersten Wagens wie einen alten Freund.
»Buenos dias, Ricardo. Hier sind die Männer, die nach Amerika wollen.«
»Hallo.« Er schüttelte den ersten vieren die Hand. »Ich heiße Ricardo und bin Ihr coyote.«
»Unser was?«, fragte Mustafa.
»Das sagt man so. Ich bringe gegen Bezahlung Leute über die Grenze. In Ihrem Fall bin ich natürlich schon bezahlt worden.«
»Wieweit ist es?«
»Zehn Kilometer. Kein großer Marsch«, sagte er gelassen.
»Die Landschaft ist überwiegend so wie hier. Wenn Sie eine Schlange sehen, gehen sie einfach weiter. Sie wird Sie nicht verfolgen. Wenn Sie sich allerdings bis auf einen Meter nähern, kann es passieren, dass sie zubeißt und Sie tötet.
Abgesehen davon haben Sie nichts zu befürchten. Wenn Sie einen Helikopter sehen, müssen Sie sich auf den Boden werfen und still liegen bleiben. Die Amerikaner bewachen 228
ihre Grenze nicht besonders scharf, und bei Tageslicht seltsamerweise noch weniger als bei Nacht. Außerdem haben wir ein paar Sicherheitsvorkehrungen getroffen.«
»Nämlich?«
»In dem Wagen dort waren dreißig Leute«, sagte er und deutete auf den großen Lastwagen, den sie beim Ankommen gesehen hatten. »Sie werden vor uns etwas weiter westlich über die Grenze marschieren. Wenn jemand erwischt wird, dann sie.«
»Wie lange werden wir unterwegs sein?«
»Drei Stunden – je nachdem, wie fit Sie sind, auch weniger. Haben Sie Wasser bei sich?«
»Wir kennen die Wüste«, versicherte Mustafa.
»Wenn Sie es sagen. Also dann, los geht’s. Folgen Sie mir, amigo. « Damit setzte sich Ricardo in nördlicher Richtung in Bewegung. Seine Kleidung war khakifarben, an seinem militärisch aussehenden Webkoppel hatte er drei Feldfla-schen befestigt, er trug ein Militärfernglas und einen Schlapphut im Army-Stil. Seine Stiefel waren reichlich ausgetreten. Er schritt entschlossen und zügig vorwärts, nicht als müsste er sich beweisen, sondern so, dass er gut voran-kam. Die anderen reihten sich im Gänsemarsch hinter ihm ein, sodass etwaige Spurensucher nicht erkennen würden, wie viele sie waren. Mustafa, der voranging, hielt sich etwa fünf Meter hinter dem coyote.
Knapp 300 Meter von dem Plantagenhaus entfernt befand sich ein Schießstand unter freiem Himmel. Die Ziele sahen genau so aus wie an der FBI-Akademie – sie waren mit runden Stahlplatten bestückt, die etwa die Größe eines menschlichen Kopfes hatten. Wenn man eins traf, gab es ein klangvolles Pläng von sich und fiel dann um, wie auch ein Mensch umfallen würde, wenn ihn an der entsprechenden Stelle ein Geschoss träfe. Wie sich herausstellte, war Enzo seinem Bruder in dieser Disziplin überlegen. Aldo erklärte, beim Marine Corps werde kein allzu großer Wert aufs Pis-229
tolenschießen gelegt. Beim FBI war es hingegen besonders wichtig, weil man davon ausging, mit einem Gewehr könne jeder genau zielen. Der FBI-Zwilling bevorzugte die beid-händige Weaver-Haltung, während der Marine aufrecht stehend und einhändig schoss, wie man es beim Militär lernte.
»Hey, Aldo, dadurch machst du dich doch nur selbst zur Zielscheibe«, warnte Dominic.
»Ach ja?« Brian gab rasch hintereinander drei Schüsse ab.
Zu seiner Zufriedenheit ertönte bei jedem ein sattes Pläng.
»Nicht so einfach, auf jemanden zu schießen, Brüderchen, wenn man vorher selbst einen in die Birne kriegt.«
Ȇberhaupt, was soll eigentlich dieser Mist von wegen
›mit einem einzigen Schuss töten‹? Was einen Schuss wert ist, das ist auch einen zweiten wert.«
»Wie viele hast du diesem Hurensohn in Alabama verpasst?«, fragte Brian.
»Drei. Bloß kein Risiko eingehen.«
»Du sagst es, Bruderherz. Hey, lass mich mal deine Smith ausprobieren.«
Ehe Dominic seine Waffe seinem Bruder gab, entlud er sie. Das Magazin reichte er ihm separat. Brian drückte ein paar Mal leer ab, um ein Gefühl für
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