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12 - Wer die Wahrheit sucht

12 - Wer die Wahrheit sucht

Titel: 12 - Wer die Wahrheit sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth George
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Billy sagte: »Hey, Blödmann, steh auf. Glaubst du vielleicht, ich weiß nicht, dass du nur so tust? Los, raus aus der Kiste. Du kriegst Besuch.«
    Paul hielt die Augen fest geschlossen, und vielleicht veranlasste das Billy dazu, ihn bei den Haaren zu packen und seinen Kopf hochzuziehen. Er blies Paul seinen schalen Morgenatem ins Gesicht und sagte: »Möchtest du 'nen Kuss haben, du kleiner Wichser? Damit du wach wirst? Du lässt dir's lieber von Kerlen machen, stimmt's?« Er schüttelte Pauls Kopf hin und her und ließ ihn wieder aufs Kissen hinunterfallen. »Du bist ein lahmer Hund. Wahrscheinlich hast du gerade einen Ständer und weißt nicht, wo du'n hintun sollst. Schauen wir mal nach.«
    Paul spürte die Hände seines Bruders auf der Decke und reagierte. Er hatte tatsächlich einen Ständer, er hatte morgens immer einen, und Gesprächen, die er im Sportunterricht mitbekommen hatte, hatte er entnommen, dass das ganz normal war. Er war unheimlich erleichtert gewesen, weil er schon angefangen hatte, sich Gedanken darüber zu machen, warum er jeden Morgen mit einem Senkrechtstarter aufwachte.
    Mit einem Schrei, der dem seines kleinen Bruders nicht unähnlich war, hielt er seine Decke fest. Als er merkte, dass Billy siegen würde, sprang er aus dem Bett und stürzte ins Bad. Er schlug die Tür zu und sperrte ab. Billy trommelte dagegen.
    »Und jetzt holt er sich einen runter!«, schrie er lachend. »Aber ohne Hilfe macht's lang nicht so viel Spaß, was? Wichsen auf Gegenseitigkeit ist lustiger, hm?«
    Paul drehte die Badewannenhähne auf und betätigte die Toilettenspülung. Nur um Billy nicht hören zu müssen.
    Aber trotz des Wasserrauschens hörte er jetzt andere Stimmen vor der Tür, die nach ihm riefen, dazu Billys irres Gelächter und Klopfen an der Tür, das nicht so gewalttätig war, aber hartnäckig. Er drehte das Wasser ab und vernahm die Stimme seines Vaters.
    »Mach auf, Paulie. Wir müssen mit dir reden.«
    Paul machte auf. Sein Vater, schon für die Arbeit auf der Baustelle gekleidet, hatte eine schmutzverkrustete Jeans an, schlammverschmierte Stiefel und ein dickes Flanellhemd, das säuerlich nach Schweiß roch. Er hätte seine Metzgertracht anhaben sollen, dachte Paul und wurde so traurig bei dem Gedanken, dass es ihm die Kehle zuschnürte. Er hätte den sauberen weißen Kittel anhaben sollen und die weiße Schürze über der Hose, die jeden Tag frisch war. Er hätte auf dem Weg zu dem Arbeitsplatz sein sollen, wo er jeden Tag gestanden hatte, so lange Paul zurückdenken konnte. Auf dem Weg zu seinem eigenen Stand im hinteren Teil der Halle, wo jetzt niemand mehr arbeitete, weil alles, was dort einmal gewesen war, für immer verschwunden war.
    Paul hätte seinem Vater am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen, um die schmutzigen Kleider und das unrasierte Gesicht nicht sehen zu müssen. Niemals wäre sein Vater früher so herumgelaufen. Aber bevor er das tun konnte, erschien nun auch seine Mutter, begleitet vom Geruch des gebratenen Schinkens, der zum täglichen Frühstück seines Vaters gehörte. Sie bestand darauf, ihm jeden Morgen eine umfangreiche Mahlzeit zu bereiten, um ihn bei Kräften zu halten.
    »Zieh dich an, Paulie«, sagte sie über die Schulter ihres Mannes hinweg. »Nachher kommt ein Rechtsanwalt zu dir.«
    »Hast du eine Ahnung, was das zu bedeuten hat, Paul?«, fragte sein Vater.
    Paul schüttelte den Kopf. Ein Rechtsanwalt? Zu ihm? Das musste ein Irrtum sein.
    »Gehst du auch zur Schule, wie sich's gehört?«, fragte sein Vater.
    Paul nickte ohne Gewissensbisse. Er war immer zur Schule gegangen, wie es sich gehörte, wenn nicht gerade was dazwischen gekommen war. Mr. Guy, zum Beispiel, und das, was passiert war. In einer riesigen Welle kehrte der Schmerz zurück.
    Seine Mutter schien es zu sehen. Sie griff in die Tasche ihres gesteppten Morgenrocks und nahm ein Papiertuch heraus, das sie Paul in die Hand drückte. »Beeil dich, Schatz«, sagte sie, und zu ihrem Mann: »Ol, komm frühstücken.« Als sie hinausgingen, um Paul seinen Vorbereitungen auf den unerwarteten Besuch zu überlassen, fügte sie hinzu: »Er ist runtergegangen.« Wie zur Bestätigung ihrer Worte begann unten der Fernsehapparat zu dröhnen. Billy hatte einen anderen Zeitvertreib gefunden.
    Allein, machte Paul sich zurecht, so gut es ging. Er wusch sich das Gesicht und die Achselhöhlen. Er zog die Sachen an, die er am Vortag getragen hatte. Er putzte sich die Zähne und kämmte sein Haar. Er betrachtete

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